Wolf Schneider: „An mir zu zweifeln ist mir mein Leben lang nicht eingefallen“



Wolf Schneider wird 90. Rechtzeitig zu seinem Geburtstag hat der Journalist, Buchautor und Gründer der Henri-Nannen-Journalistenschule seine Autobiografie vorgelegt. Gemeinsam mit Sven Michaelsen habe ich ihn für die Welt am Sonntag interviewt. Hier eine ausführlichere Fassung des Gesprächs.

VON SVEN MICHAELSEN UND CHRISTOPH KEESE

Ein Wohnzimmer mit Blick auf den Starnberger See. Der bald 90-jährige Mann auf dem Sofa hat in 68 Berufsjahren einiges zuwege gebracht. Wolf Schneider schrieb 28 Sachbücher, war Verlagsleiter des stern, Chefredakteur der Welt, Moderator der NDR-Talkshow, dazu Gründer und 16 Jahre Leiter der Henri-Nannen-Journalistenschule. Kommende Woche erscheint seine Autobiographie Hottentottenstottertrottel.* Aus diesem Anlass sitzen ihm als Fragensteller zwei ehemalige Schüler gegenüber, die er Mitte der Achtziger mit Parolen wie „Qualität kommt von Qual!“ und „Motive sind Luxus, und Gründe sind die Pest!“ zu Journalisten ausgebildet hat.

Mit zehn Jahren bekam der spätere Sprachkritiker Wolf Schneider ein Sprechproblem. Warum?

Ich war der Jüngste unter 14-jährigen Riesen, die das große Wort führten. Eines Tages war ich beim Anfangen vernagelt. Das erste Wort kam nicht heraus. Offenen Mundes blieb ich stumm. Um nicht zum schweren Stotterer zu werden, dachte ich mir Sätze aus, die mit M anfangen, und summte das erste Wort vor mich hin. Erschien die Gesprächssituation günstig, wechselte ich vom Summen ins Sprechen. Das war ein Erweckungserlebnis.

Kaum konnten Sie wieder frei sprechen, boten Sie Ihren Kameraden einen Wettstreit an: Wer schafft es, ein Wortungetüm mit 29 Silben am schnellsten fehlerfrei herunterzurasseln?

Das Wort hieß „Hottentottenstottertrottelmutterattentäterlattengitterwetterkotter-
beutelrattenfangprämie“. Mit diesem Bandwurm habe ich mir mein Leben lang vor Auftritten die Zunge geschmiert, manchmal auf der Herrentoilette, weil es keiner hören sollte.

Sind Höchstleistungen die Kompensation einer Schwäche oder Kränkung?

Die Theorie könnte richtig sein. Es war eine Zurücksetzung, nichts sagen zu können. Deshalb schließe ich nicht aus, dass meine spätere Redefreude damit zusammenhängt. Aber nötigen Sie mich bitte nicht zu psychologischen Feststellungen. Ich kenne mein Selbst so wenig wie Sie das Ihre. Es ist mir auch völlig egal.

Sie haben zeitlebens wie ein Besessener gearbeitet. Aus Angst vor Introspektion, dem Horror vacui?

Nee. Die Katze maust, die Spinne spinnt, und Schubert hat wie ein Rasender komponiert. Meine Natur war es, wie ein Rasender zu schreiben. Bei der Süddeutschen Zeitung habe ich 35 Stunden in der Woche in der Redaktion gearbeitet und jahrelang 45 Stunden in der Woche zu Hause an meinen Büchern.

Was passiert, wenn man Ihnen für eine Woche die Hände auf dem Rücken zusammenbindet?

Ein großer Trost wäre ein Tonbandgerät. Dann könnte ich die Welt wenigstens noch zuquatschen.

Als es im Vorstand von Gruner + Jahr um die Gründung der Journalistenschule ging, empfahl Sie stern-Gründer Henri Nannen mit den Worten: „Der Schneider ist zwar ein Arschloch, aber er ist der Einzige, der das kann.“ Geben Sie gern den Kotzbrocken, weil das den höchsten Distinktionsgewinn verspricht?

Mit 17 habe ich das erste Mal gehört, ich sei arrogant. Ich fühlte mich vollkommen natürlich. Ich bin eben so. Eine Ehemalige der Schule schrieb mal: „Wer Schneider hasst, hasst ihn auf Knien.“ Damit kann ich leben.

Ist Arroganz das Selbstbewusstsein des Minderwertigkeitskomplexes?

Ich schließe nicht aus, dass ein Psychoanalytiker mir so was nachsagen würde. Ich würde ihn dafür auslachen und denken: Schon wieder einer von denen!

Kennen Sie Selbstzweifel?

Nein. An mir zu zweifeln ist mir mein Leben lang nicht eingefallen. Die anderen sind die Idioten. Gezögert habe ich nur, ob ich mit meiner Schnauze der richtige Moderator für die NDR-Talkshow wäre. Nach den ersten Sendungen stellte ich fest, ich blamiere mich nicht, die Gäste haben Probleme.

Sie sind fast 50 Jahre lang verheiratet. Ihre Frau sagte uns: „Es kommt vor, dass mein Mann sich verspricht. Aber irgendwo muss der Mensch ja zu Hause sein.“

Der rhetorische Wettstreit, mit dem unsere Liebe begann, ist nicht gestorben. Wir sind zwei Alphatiere, die a) sehr gut zueinander passen, aber sich b) eine ganze Menge hakeln.

Von wem haben Sie am meisten gelernt?

Von Henri Nannen. Er war zwar ein zu großer Mann, um auch noch ein angenehmer Mensch zu sein, aber zwei Charakteristika haben sich mir für immer eingeprägt: Sein rabiater, ums Verrecken auf das Leserinteresse gerichteter Sprach-Ehrgeiz und seine Haltung: „Wir sind die Größten, die Besten, die Erfolgreichsten – und das ist uns selbstverständlich viel zu wenig. Leute, krempelt die Ärmel auf!“

1973 wurden Sie Chefredakteur der Welt. Wie sehr kränkte es Sie, nach nur 13 Monaten gefeuert zu werden?

Kränkbar bin ich nicht. Als ich abgesägt worden war, war das Presse-Echo für mich so günstig, dass ich mir gegenüber Peter Tamm, als er mich beiläufig fragte „Und wie geht es Ihnen?“ den Trost des äußersten Hochmuts leistete: „Danke! Ein tägliches Quantum Selbstgerechtigkeit und Schadenfreude hält mich bei vorzüglicher Gesundheit.“ Ich glaubte ja keine Sekunde, ein guter Verleger habe einen schlechten Chefredakteur rausgeworfen. Ich glaubte ununterbrochen, ein törichter Verleger habe einen brillanten Chefredakteur entlassen.

Wie war Ihr Verhältnis zu Axel Springer?

Es gab drei Akte. Er umwarb mich, als ich ihm den Anti-Spiegel erfinden sollte, er hofierte mich, als ich sein Lieblingskind Die Welt leiten sollte, er ließ mich in den Hintern treten, als er glaubte, mich nicht mehr zu brauchen. Ein Insider hatte mir die Bauchlandung vorhergesagt: „Springer ist ein weicher Mensch, und Sie verwenden in mündlicher Rede korrekte Konjunktive.“ Ich war nicht sein Typ, er nicht meiner. Er wollte plaudern. Ich kann das nicht.

Warum können Sie nicht plaudern?

Mein Gott, ich kann so viel, dass ich mich für das, was ich nicht kann, nicht auch noch entschuldigen muss. Auf Partys komme ich mit keinem Menschen ins Gespräch, meine Frau sofort mit allen.

Wer sind Sie in Ihren Träumen?

Ich habe nur dumme Träume mit rätselhaften Handlungen. Als Kind sah ich mich mehrfach von Banditen verfolgt. Ich griff begeistert nach meiner Pistole, sie schoss auch, aber die Kugel fiel einen Meter vor dem Lauf zu Boden.

Sind Ihnen Menschen, deren Verhalten Sie an sich selbst erinnert, eher sympathisch oder unsympathisch?

An mich hat mich noch niemand erinnert.

Ist Hochmut die Schutzhaltung der Verletzten?

Da ich kein Verletzter bin, kann ich Ihre Frage nicht beantworten. Sie wünschen, aus mir Probleme herauszukitzeln, die ich nicht habe. Ich bin ein einschichtiger Mensch.

Ihr menschenähnlichster Zug?

Meine Frau sagt, ich sei sentimental. Musik, Berge: Über Schönes kann ich heulen. Ich bin rührselig.

Mit 14 wollten Sie Thomas Mann werden, „nur viel besser“. Was wird von Ihnen bleiben?

Ich habe den Eindruck, dass von den über 600 Journalistenschülern etliche noch nach 20 Jahren von mir reden werden. Das ist ein hübscher Gedanke, wenn er einem so kommt. Ein paar meiner Bücher werden auch noch ein bisschen weiterleben. Wörter machen Leute ist seit 34 Jahren im Handel, gerade ist die 21. Auflage erschienen.

Wie alt wären Sie, wenn Sie nicht wüssten, wie alt Sie sind?

Kopf: 30. Stimme: 90. Knie: 105.

Ist das erste Symptom des Alters, dass aus Tragödien plötzlich Komödien werden?

Die Frage ist so hübsch, dass ich Sie Ihnen nicht durch eine Parterre-Antwort verleiden möchte.

In der Bibel gibt es das Wort lebenssatt. Haben Sie diesen Zustand erreicht?

Nein. Wie heißt es bei Ringelnatz: „Aus meiner tiefsten Seele zieht mit Nasenflügelbeben ein ungeheurer Appetit auf Frühstück und auf Leben.“

Wie viele Menschen, die tot sind, vermissen Sie wirklich?

Vermisse ich meine Eltern? Vermisse ich meine Geschwister? Was hätte ich davon, wenn Henri Nannen noch lebte, noch älter als ich? Nein, ich vermisse keinen.

Welche Tröstungen hält das Greisenalter bereit?

Da ich nicht traurig bin, brauche ich keinen Trost. Ein Ärgernis ist mein körperlicher Zustand. Ich bin ein Extremfall von Bewegungslust. Ich war ein Bergkletterer und Tänzer. Bis 50 konnte ich nicht Spazierengehen, ohne zwischendurch einen Sprint einzulegen. Alles vorbei. Ich kann nur noch Latschen und nehme dabei auch noch Nordic-Walking-Stöcke zu Hilfe – was ich hasse! Mit jedem Einstecken des Stockes teile ich mir selber und der Welt mit, jetzt bist du also körperlich zum Wrack degradiert. Wenn ich ein Rollstuhlfall würde: entsetzlich. Dass ich organisch ziemlich gesund bin, macht das Rollstuhlschicksal leider möglich.

Was soll auf Ihrem Grabstein stehen?

Was wollte Tucholsky schreiben? „Hier liegt eine eiserne Schnauze und ein goldenes Herz.“ Aber das wäre beides übertrieben. Mir ist vollständig egal, was aus mir wird. Ins Meer streuen, auf den Müll kippen, im goldenen Sarg beerdigen: Das sollen meine Frau und meine Kinder entscheiden.

Welche Frage würde der Journalist Schneider dem Menschen Schneider stellen?

Ich interessiere mich zu wenig für mich selber, um dieses Spiel zu spielen. Eine Frage, die ich gerne beantwortet sähe, ist, wie es sein kann, dass Milliarden Menschen sich auf etwas dermaßen Törichtes wie Religion einlassen. Wie können intelligente Menschen daran glauben, dass Gott seinen Sohn geschickt hat, damit er sich am Kreuz für die Sünden der Menschheit entschuldigt? Darüber ein Buch zu schreiben, würde mich noch mal reizen.

Sie glauben nicht an das Jenseits?

„An das Jenseits nicht glauben“ ist eine anfechtbare Ausdrucksweise. Das heißt ja, dass es ein Jenseits gibt, an das ich nicht glaube. Nein, ich weiß vollkommen genau, dass es kein Jenseits gibt.

Was dachten Sie, als Sie vom Suizid von Fritz J. Raddatz hörten?

Über Raddatz nur Negatives, aber das Thema bewegt mich sehr. Der Tod selbst ist ja nichts Schlimmes – ginge ihm nicht diese elende Sterberei voraus. Die meisten sterben lange und widerlich. Daliegen und sich anscheißen, damit endet alle Lebenswürde. Wenn es eine halbwegs zumutbare Form gäbe, sich in einem späten Zustand abzuschaffen, wäre ich dafür.

Veröffentlichung in diesem Blog mit freundlicher Genehmigung meines Co-Autoren Sven Michaelsen.

Coverfoto: Rowohlt

* Rowohlt, 448 Seiten, 19,95 Euro



 

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