Sieben Gründe, warum Buzzfeed mehr ist als ein Portal für Hitlisten und Katzenfotos



Aufmacher-Illustration einer 24.000 Zeichen langen Buzzfeed-Reportage über die Webseite Mint Press News in Minnesota, die Assad vom Giftgas-Anschlag freispricht und Rebellen dafür verantwortlich macht.

Bei Twitter und in Blogs wird eine interessante Debatte über Buzzfeed geführt. Ist das erfolgreiche amerikanische Portal eine Heimstatt der Dummheit oder können Verlage und Journalisten von der Seite lernen? Sieben Gründe, warum Buzzfeed einen neuen Weg in die verlegerische Zukunft weist und weitaus mehr ist als ein Portal für Hitlisten und Katzenfotos:

Erstens: Buzzfeed verleiht den Emotionen seiner Leser Ausdruck

Jeder Leser eines Artikels verbindet Gefühle mit der Lektüre, ob bei BILD, FAZ, NZZ, Spiegel, Gala, Stern oder New York Times. Seien es Langweile, Wut, Ärger, Empörung, Unverständnis, Freude, Überraschung, Belustigung oder Abscheu. Henri Nannen hat – ziemlich machohaft – vom „Küchenzuruf“ gesprochen: Der Gefühlsimpuls, der den Leser im Wohnzimmer animiert, seiner Gattin in der Küche zuzurufen: „Schatz, hast du das gehört?“

Reaktionsleiste am Fuß von Buzzfeed-Artikeln

Klassische Medien leiten diesen Impuls nicht ab. Er entsteht im Leser und bleibt in ihm gefangen. Erst Stunden später – beim Mittagessen, Rauchen, Trinken, Sport – bietet sich ihm die soziale Gelegenheit, über sein Lese-Erlebnis zu sprechen. Das meiste ist bis dahin aber vergessen.

Webseiten klassischer Verlage haben zwar Twitter- und Facebook-Knöpfe in ihre Seiten eingebaut. Aber damit kann der Leser den Text nur teilen, nicht aber seine Gefühle anderen Menschen mitteilen. Freilich könnte der Leser seinen Tweet oder Like kommentieren. Einige machen das auch. Doch dieses Tippen ist mit Mühe verbunden und kostet etwas Zeit. Man muss ein wenig kognitive Leistung investieren. Nicht jeder hat immer Lust dazu.

Bei Buzzfeed werden Emotionen sofort abgeleitet. Man gibt sein Gefühl zu Protokoll und verschafft sich durch etwas Erleichterung. Braucht man das unbedingt? Nein. Aber es schadet nicht und macht Spaß.

Zweitens: Buzzfeed standardisiert Leser-Emotionen

Gefühle von Lesern werden in standardisierte Reaktionsmuster geleitet und dadurch algorithmisch verwertbar gemacht. Die spielerisch aussehenden Kürzel symbolisieren ein streng durchdachtes Kalkül, da sie nur starke Gefühle erfassen und nur solche, die sozial erwünscht sind. Beide Faktoren kombiniert, ergeben einen starken Leseanreiz für Dritte.

Die zentralen Gefühls-Icons oben auf der Buzzfeed-Homepage. Es ist eine Auswahl der populärsten Emoticons. Unten die gesamte Emoticon-Leiste, wie sie am Ende von Artikeln erscheint:

Die Gefühle, die Buzzfeed erfasst, sind:

ZUNEIGUNG, LIEBE (Herz)
VERWUNDERUNG (Oh my God, Oh my Goodness, OMG)
BELUSTIGUNG (Lough out loud, LOL)
RÜHRUNG (Cute)
LANGEWEILE (What the fuck? WTF)
BEGEISTERUNG (Win)
ABLEHNUNG (Fail)
INTERESSIERTE ABSCHEU (Trashy)
EKEL (lautmalerisch: Ew)
ÄSTHETISCHE ABNEIGUNG (Drab)
ÄSTHETISCHE BEWUNDERUNG (Fab)
LIEBESKUMMER, EINSAMKEIT, VERLUST (gebrochenes Herz)

Man mag argumentieren, dass Buzzfeed damit vor allem die Gefühlswelt von Teenagern einfängt. Nicht behaupten aber kann man, dass klassische Webseiten davon nichts lernen können. Auch die Gefühlswelt von 50jährigen Intellektuellen ließe sich durch diese Mechanik beschreiben, wenn man die Optik seriös gestalten und die Gefühle ins Gebildet-Abgeklärte wenden würde.

Drittens: Buzzfeed organisiert sein Angebot nach Leser-Emotionen

Buzzfeed nimmt die Emotionen seiner Leser so ernst, dass die gesamte Webseite nach ihnen sortiert wird. Wenn man auf die Emoticons in der Navigation klickt, gelangt man auf Sammelseiten für alle Beiträge, die mit diesem Emoticon markiert worden – sortiert nach der Reihenfolge ihrer Beliebtheit. Diese Gefühls-Sammelstellen ersetzen bei Buzzfeed die klassischen Ressorts, welche auf die zweite Navigationsebene zurückgedrängt werden. Lesersentimente bilden die Hauptnavigation. So radikal hat noch kein klassisches Medium seine Navigation auf Leser-Reaktionen abgestellt.

Hier als Beispiel der LOL-Feed:

Oder der Fail-Feed:

Oder der Trashy-Feed:

Man stelle sich vor, klassische Webseiten würden mit derselben Mechanik arbeiten, nur unter Verwendung älterer Gefühls-Begriffe. Zum Beispiel:

INSPIRIEREND
HILFREICH FÜR DIE ARBEIT
LANGWEILIG
ÜBERFLÜSSIG
ÄRGERLICH
DUMM
ORIGINELL
ÜBERZEUGEND
ANSPRUCHSVOLL
PACKEND
POETISCH
PHILOSOPHISCH REIZVOLL

Man stelle sich ferner vor, WELT, FAZ und NZZ würden die Hauptnavigation ihrer Webseiten durch solche Begriffe ersetzen, über die ihre Leser abgestimmt haben. Es wäre kaum vorstellbar, dass dies andere Leser nicht zum Ausprobieren animieren würde, wenn dahinter Sammelseiten mit allen Beiträgen ebenjener Gefühlskategorie stünden.

Viertens: Buzzfeed macht Dinge, die Menschen weitersagen

Die Buzzfeed-Gefühle sind sorgfältig ausgewählt. Es stehen keine Gefühle in der Icon-Liste, deren man sich schämen müsste. Neid, Missgunst, Hass, Gier, Begierde kommen nicht vor. Das redaktionelle Programm und die technische Mechanik sind abgestellt auf das, was sich die Leute im Rahmen der gesellschaftlichen Etikette untereinander mitteilen möchten.

Damit wächst Buzzfeed in eine Funktion hinein, die früher von Zeitungen wahrgenommen wurde: Gesprächsstofflieferant für die Mittagspause. Es kann und darf klassischen Medien nicht gleichgültig sein, wenn Buzzfeed ihnen diese Funktion systematisch streitig macht.

Fünftens: Buzzfeed versteht die modernen Vertriebswege

Suchmaschinen und Suchmaschinenoptimierung sind wichtig, basieren aber auf einer rund 20 Jahre alten Technologie. Ihre Grundannahme lautet: „Ein Text ist dann relevant, wenn ein bestimmtes Wort in ihm vorkommt.“ Technologisch ist seitdem viel passiert. Soziale Netzwerke stehen kurz davor, Suchmaschinen als wichtigsten Vertriebskanal von Webseiten abzulösen. Buzzfeed richtet sein Produkt auf diesen Vertriebsweg aus. Klassische Medien sollten sich davor hüten, auf diesem jungen Vertriebsweg ins Abseits gedrängt zu werden. In den USA ist das schon passiert.

Sechstens: Buzzfeed sucht sein Material sorgfältig aus

Es fällt leicht, sich über die Themen lustig zu machen, mit denen Buzzfeed groß geworden ist, zum Beispiel diese aktuelle Zusammenschau von Verkleidungen, mit denen Katzen zu Halloween erscheinen:

Man übersieht dabei schnell, dass Buzzfeed sein Material sorgfältig auswählt. Dies mag zwar keine kulturell anspruchsvolle redaktionelle Leistung sein, aber eine Leistung im Sinne von Fleißarbeit ist es trotzdem.

Zum Beispiel dieser Beitrag zeigt, was gemeint ist:

„13 Reasons Why Doing Nothing On The Weekend Is The Absolute Best“ gibt lustige Tipps für das Wochenende. Die eingebauten Videoclips muss man erst einmal finden. Diesen hier zum Beispiel:

Oder diesen hier:

Das ist zwar nicht meine Art von Humor. Aber ich möchte auch nicht der Bildredakteur sein, der Dutzende solcher Clips pro Tag finden muss, um die Empfehlungsmaschine in Gang zu halten. Albern, blöd, Zeitverschwendung – ja, vielleicht. Aber einfach so hingeschlunzt wie Bildergalerien auf manchen klassischen Webseiten – sicher nein.

Siebtens: Buzzfeed greift neuerdings mit Qualität an

Seine Anfangserfolge nutzt Buzzfeed zum Frontalangriff auf klassische Qualitätsmedien. Immer häufiger erscheinen selbst gesetzte, selbst recherchierte Themen, die in den Schatten stellen, was das Gros klassischer Nachrichtenwebseiten im Tagesgeschäft zuwege bringt.

Zum Beispiel dieser Text über Assads Sympathisanten in den USA:

Diese Mischung aus Reportage und Analyse ist 24.000 Zeiten lang – zwei Zeitungsseiten im nordischen Format. Der Text wird ohne Schnickschnack angezeigt auf vielen Screens, die so aussehen wie dieser:

Illustriert wird der Text mit professioneller Nachrichtenfotografie:

Eingeblockt sind Text-Bild-Elemente in Zeitschriften-Optik:

Und:

Buzzfeed wird erwachsen. Vermutlich dauert es nicht mehr lange, bis das Management die Teenie-Symbole auf die Geschmäcker von Erwachsenen anpasst. Das dürfte leicht fallen. Die technische Plattform steht. Man muss lediglich die PNGs und JPEGs der Icons austauschen und die seriöse Seitenoptik des Assad-Berichts auf den gesamten Auftritt übertragen.

Für klassische Medien ist das aus sieben Gründen eine Bedrohung. Sie sollten Buzzfeed ernster nehmen, als sie es bisher tun.

(Tobias Schwarz hat meine Einschätzung zu Buzzfeed in einem Kommentar bei den Netzpiloten kritisiert. Der Text ist hier mit Zustimmung des Autoren dokumentiert.)



 

7 Kommentare

 
  1. (Pingback)

    [...] Sobald ich über ein Thema geschrieben habe, verliere ich danach normalerweise das Interesse daran. Ihr müsst wissen: Alles langweilt mich nach kürzester Zeit. Auch die wahnsinnigsten Themen. Aber BuzzFeed, oder besser gesagt das gesamte Konzept der Re- und Mashupblogs, verfolgt uns so sehr auf unseren täglichen Reisen durch das Internet, dass es unmöglich ist, deren Einflussbereich zu ignorieren und diese Auswüchse nicht interessant zu finden. Besonders innerhalb der momentanen Debatte rund um die vermeintliche Zukunft des Journalismus. [...]

    Eine Woche BuzzFeed – Das Ende eines Experiments | Internet | NEUE ELITE

    21. Oktober 2013

     
  2. (Pingback)

    [...] zu Buzzfeed auseinandersetzt. Der Text wurde geschrieben, bevor ich meine Einschätzung zu Buzzfeed ausführlicher in diesem Blog dargelegt habe. Der Text von Tobias Schwarz erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des [...]

    Gastbeitrag: Reden wir über Buzzfeed! | der presseschauder

    7. Oktober 2013