Leseprobe 3: Analoge Arbeitskultur – Wer nicht am Ort ist, spielt keine Rolle



Aus meinem Buch “Silicon Valley – Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt”. (Knaus, 19,99 Euro). Hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags als Leseprobe das Kapitel über die Arbeitskultur. Es folgt im Buch auf das Kapitel über Palo Alto:


Alle Leseproben im Überblick:

Leseprobe 1: Inhaltsverzeichnis
Leseprobe 2: Palo Alto, explosives Gemisch aus Geist und Geld
Leseprobe 3: Analoge Arbeitskultur – Wer nicht am Ort ist, spielt keine Rolle

Das Buch ist bei Amazon hier erhältlich.

Die Rezension der Frankfurter Allgemeinen Zeitung steht hier.


Analoge Arbeitskultur: Wer nicht am Ort ist, spielt keine Rolle

Persönliche Anwesenheit ist Pflicht, virtuelle Kommunikation verpönt. Das Silicon Valley pflegt einen extremen Kult der Nähe.

Sein Büro ist lila gestrichen. Lila! Nur dieser Mann bringt so etwas fertig. Saeed Amidi steht im Türrahmen und winkt mich herein: »Komm, setz dich. Willst du Wasser?« Amidi ist ein bulliger Typ mit jovialen Gesten. Aufmerksam, alert, gewieft. Jemand, der einem schnell den Arm um die Schulter legt. Vollblutunternehmer ist das Wort, das einem gleich einfällt. Mit Wasser kennt er sich aus. Er besitzt Wasserabfüllanlagen imNahen Osten. Eines seiner vielen Geschäfte. Im Hauptberuf leitet Amidi PlugAndPlay, einen führenden Inkubator, also Gründungsbeschleuniger. PlugAndPlay liegt am Stadtrand von Sunnyvale südlich von Mountain View. Ich besuche Amidi in der Zentrale: ein verspiegelter Gebäudekubus, in dem Dutzende von Start-ups auf mehreren Etagen ihre Interimslager aufgeschlagen haben.

An mehr als 70 Firmen ist Amidi beteiligt. Welche sind das? »PayPal, Dropbox und Lending Club zum Beispiel.« Er dreht sich um und zieht eine Broschüre aus der Schublade, in der alle aufgelistet sind. Amidi ist der Pate des Silicon Valley. Jeder kennt ihn, jeder hatte schon einmal mit ihm zu tun. Er gehört zu einem alteingesessenen Clan. Auf der University Avenue betreibt seine Familie einen Teppichladen. »Da kamen immer junge Gründer in mein Geschäft und wollten Teppiche für ihre neuen Büros kaufen, damit die nicht so ungemütlich aussehen«, erzählt er. »Das begann vor etwa zehn Jahren, als die Gründungswelle Fahrt aufnahm. Viele konnten ihre Teppiche nicht bezahlen. Also nahm ich ihre Aktien in Zahlung.« Er erfand ein Carpet-for-Equity-Programm, und es machte ihn reich. Mit Teppichen stieg er billig in Firmen ein, die später Millionen und Milliarden wert wurden.

Ich frage Amidi nach der Arbeitskultur des Silicon Valley. »Das Zentrum der virtuellen Welt hasst nichts mehr als virtuelle Kommunikation «, antwortet er. »Fernbeziehungen sind verpönt. Wer etwas erreichen will, muss vor Ort sein. Besonders Investoren legen größten Wert auf Nähe. Wen man nicht kennt, dem traut man nicht, und wem man nicht traut, mit dem macht man keine Geschäfte.« Geschwindigkeit, Offenheit und räumliche Nähe seien die wichtigsten Faktoren. »Jedes Start-up in diesem Inkubator könnte einsam in irgendeinem Bürocenter sitzen und im eigenen Saft schmoren. Dann gäbe es keine Befruchtung von außen mehr, keinen Austausch, keine Herausforderung, keine Kritik. Das wäre nicht gut. Gründen heißt Kommunizieren. Hier sitzen die kompetentesten Kritiker am Schreibtisch nebenan.« Er macht eine Wusel geste mit den Armen: »Das Silicon Valley ist ein Ameisenhaufen. Jeder kommuniziert mit jedem. Wie in einem Dorf. Wer wegfährt, verliert den Anschluss. Und wer hier ist, bekommt Kontakt, den er auf anderem Wege nie gefunden hätte.«

Amidi führt mich durch den Inkubator. Tische, an denen in deutschen Firmen einzelne Mitarbeiter sitzen, bieten hier sechsköpfigen Start-ups Platz. »Die flüstern sich ständig irgendetwas zu«, sagt Amidi. »Das macht sie schnell. Schaff nur drei Fuß Platz zwischen ihnen, und sofort hört das Gemurmel auf. Sofort stoppt die Kommunikation. Nicht Geiz lässt die Teams so eng zusammenrücken. Es ist Instinkt. Wer reden will, kommt sich nah. Wer weiter weg rückt, will in Wahrheit ungestört bleiben.« Wie konzentrieren sich die Leute? »Kopfhörer, Rauschunterdrückung, mit dem Laptop in die Caféteria gehen, aufstehen, wenn man telefoniert. Das ist gar nicht so schwer.« Amidi zeigt auf die Flaggen unter der Decke: »Kulturelle Vielfalt ist ebenso wichtig. Aus Spaß hängen die Leute ihre Fahnen auf. Sie kommen von überallher. Je unterschiedlicher sie sind, desto besser die Ergebnisse. Wer nicht in einem Inkubator sitzt, frequentiert die Cafés. Sie sind immer voll. Europäer, die für drei Tage ins Silicon Valley kommen, machen sich nicht klar, wie wichtig dieser persönliche Austausch ist. Ohne ihn findet man in diese Kultur nicht hinein.«

Diese Botschaft höre ich immer wieder. »Wen ich mit dem Fahrrad nicht erreichen kann«, sagt ein bekannter Venture Capitalist, »in den investiere ich nicht. Ich muss zur Not jeden Tag hinfahren können, um dem Team Dampf zu machen. Aber auch wenn es gut läuft, will ich genau wissen, was meine Firmen gerade tun. Nähe ist absolut unverzichtbar.« Ein anderer Anleger ist ähnlich streng: »Die größte Distanz zu Leuten, mit denen ich Geschäfte mache, sind 30 Minuten. In San Francisco können sie meinetwegen sitzen, aber nicht weiter weg.« Marc Andreessen, Gründer von Netscape und einer der führenden Investoren, sieht es ähnlich: »Investoren bieten nicht nur Bargeld«, sagt er. »Was sie vor allem mitbringen, sind Rat und Tat. Sie helfen Gründern, ihre Geschäfte zu entwickeln. Geld ist im Überfluss vorhanden. Man bekommt es an jeder Ecke. Was Gründer suchen, sind das persönliche Engagement und das Netzwerk des Investors. Dass er aktiv mitmacht. Und das geht nur, wenn er direkt um die Ecke sitzt. Auf Entfernung funktioniert das nicht.«

Xavier Damman, Gründer und Chef des Start-ups Storify, zieht einen historischen Vergleich heran: »Das Silicon Valley ist wie Florenz während der Renaissance. Talent und Kapital sitzen dicht nebeneinander in einer Metropole, und ihre Wege kreuzen sich ständig.« Netzwerke sind wichtiger als Geld. »Nur über Netzwerke kommt eine junge Firma voran. Nur so findet sie Kunden, Ratgeber, Technologiepartner oder neue Mitarbeiter.« Auch Akshay Kothari bestätigt diese These: »Wir brauchen Dichte.« Kothari ist Gründer von Pulse, einem Nachrichten-Aggregator. Seine Firma, inzwischen verkauft an LinkedIn, fasst journalistische Artikel aus vielen Quellen in einer App zusammen. Kothari sagt: »Programmierer müssen sich Informationen auf kurze Distanz zumurmeln können, sonst kommen sie nicht weiter.«

Pulse logiert in einem Loft in der Innenstadt von San Francisco. Auch dort sitzen überraschend viele Leute auf engstem Raum. Die Mitarbeiter drängen sich zu acht oder zehnt an langen Tischen, so dicht wie in einem Restaurant. Nach deutscher Arbeitsstättenrichtlinie wäre das nicht statthaft. Unglücklich sehen sie dabei allerdings nicht aus. Im Gegenteil. Die Sitzanordnung funktioniert problemlos. Glückliche und entspannte Gesichter ringsum. Fast wie in einer Wohngemeinschaft: Alle reden über alles und jeden, aber so leise, dass sich trotzdem jeder konzentrieren kann. Millionenfach multipliziert, muss diese intensive Kommunikation einen messbaren Effekt auf die Leistungskraft einer Volkswirtschaft haben.

Jeder ist hier ständig auf dem neuesten Stand. Herrschaftswissen gibt es nicht. Hierarchien sind unsichtbar. Investoren, Freunde und Konkurrenten kommen unangekündigt vorbei, während ich mit Kothari rede. Sie stehen in der Tür, trinken einen Kaffee und erzählen von einer neuen Idee oder einer neuen Technologie. Sie bringen einen Bekannten mit, beugen sich über die Bildschirme, werden ihre Ratschläge los und verschwinden wieder. Jeder kann an dem Gespräch teilnehmen, jeder sieht, was gerade los ist. Eine große Schüssel mit Bananen und Äpfeln wartet auf der Theke. Müsliriegel liegen in der Auslage, Cornflakes und Milch stehen zum freien Zugriff bereit. »Das sieht vielleicht verschwenderisch aus«, sagt Kothari. »Aber es macht produktiv. Auf jeder guten Party spielt die Küche die Hauptrolle. So muss man auch Firmen organisieren. Wir bauen unsere Büros um die Küche herum, und die meisten anderen Firmen, die ich kenne, tun das auch. Die zwanglosesten Gespräche ergeben sich immer in der Küche. So lassen sich die Grenzen zwischen Abteilungen und Fachgebieten am einfachsten überwinden.«

Mittagszeit. Der Koch schlägt an eine Schiffsglocke. Alle kommen zu Tisch. Niemand geht in ein Restaurant, niemand spaziert um den Block. Zwei Stunden lang hat der Koch vor aller Augen mitten im Büro gekocht. Alle haben ihm über die Schulter geschaut und gefragt, was es heute zu essen gibt. Das Mahl ist kostenlos, wie fast überall im Silicon Valley. Die Investition zahlt sich aus: Wege zu Restaurants fallen weg, der Gesprächsfluss wird nicht unterbrochen, und der Teamgeist wächst. Bei Tisch wird wild diskutiert. Thema ist wie immer das neue Produkt.

Die Intensität der Arbeit ist sofort spürbar. Die Leute brennen. Und sie beuten sich selbst aus. Sie trennen kaum noch zwischen ihrem Privatleben und dem Beruf. Nur selten enden Arbeitstage nachmittags um fünf. Projekte sind in Sprints und Entspannungsphasen organisiert. Bei Sprints wohnen alle für vier oder fünf Tage im Büro und programmieren Tag und Nacht. Auf einer Tafel stehen die Ziele, die sie verabredet haben. Aufgehört wird erst, wenn alles fertig ist. Der Koch hält sie bei Laune. Nach dem Sprint fährt die Firma für ein paar Tage mit den Familien zum Strand. Alle entspannen sich in der Sonne, machen Lagerfeuer mit den Kindern und zelten in den Dünen. Es folgen einige ruhige Tage im Büro, und dann steht schon der nächste Sprint an. Ein fordernder, anstrengender Rhythmus. Doch persönliche Opfer zu bringen, ist Ehrensache. Für die meisten ist das hier die Chance auf den großen Durchbruch, auf Geld und Ruhm.

Ganz ähnlich sieht es bei Airbnb aus, dem Vermittlungsdienst für Privatwohnungen, inzwischen ein ernst zu nehmender Konkurrent für Hotels. Gründer Brian Chesky führt mich durch die Räume am Rande der Innenstadt von San Francisco. Fünf Köche werkeln gleichzeitig in der Mitte des Lofts. Schlafcouchs und Matratzen stehen zwischen den Schreibtischen herum. Ein aufgeschnittener Pappkarton bietet die Übernachtung für einen Dollar an – als Witz. Trotzdem hat jemand das Angebot angenommen. Füße schauen unten aus dem Karton hervor. Gleich neben der Rezeption steht ein nachgebautes Baumhaus. Fünf Übernachtungsgäste haben darin Platz. An den Tischen drangvolle Enge wie bei Pulse. In einer Art Theater trifft sich die ganze Belegschaft einmal in der Woche. Chesky und seine Mitgründer klettern auf die Bühne, berichten Neuigkeiten, stellen Features vor und begrüßen Neu ankömmlinge. Es wird heiß diskutiert: Strategie, Finanzierung, das Produkt, die Konkurrenz, der nächste Sprint. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland ist Airbnb in eine neue, viel größere Firmen zentrale umgezogen. Dort wurde ständige Kommunikation noch plan mäßiger organisiert. Alles ist auf Gemeinschaftserleben ausgerichtet, ergänzt um Hunderte von Rückzugsm.glichkeiten.

Auch bei Google in Mountain View geht es zu wie auf einem Uni-Campus. Dutzende von Gebäuden gruppieren sich um Beachvolleyplatz, Kräutergarten, Sonnenterrasse, Cafés, Liegewiesen und Yogalogen. Kernstück ist auch hier die Küche. Die beiden Gründer sind bekannt dafür, Köche aus Restaurants abzuwerben, bei denen es ihnen geschmeckt hat. Die Google-Kantine gleicht einem asiatischen Dorf: Wie Garküchen stehen die Stände der Küchenchefs nebeneinander. Täglich kochen sie um die Wette. Die Mitarbeiter streifen durch die Gassen und bedienen sich – auch hier ist das Essen kostenlos.

Mit geregelten Arbeitsbedingungen steht das Silicon Valley auf Kriegsfuß. Arbeit dient in erster Linie nicht dem Broterwerb, sondern der Erfüllung einer privaten Leidenschaft. Zumindest ist das die Legende, mit dem das Silicon Valley seine Belegschaft zu Höchstleistungen aufputscht. Der Glaube an eine große Vision hilft, das Werk so schnell wie möglich zu vollenden. Teams sollen die Familie ersetzen, zumindest aber ergänzen. Für viele junge Leute, die gerade erst in die Stadt gekommen sind, ist das ein willkommenes Identifikationsangebot. Sie nehmen das Surrogat dankbar an. Neue Mitarbeiter stoßen laufend hinzu und werden schnell integriert. Freundschaften entstehen. Die Legende vom großen gemeinsamen Ziel hat etwas Ungerechtes, denn diejenigen, die am härtesten arbeiten, sind oft jene, die am wenigsten davon profitieren, weil sie die wenigsten Aktien besitzen. Ihre Ersatzfamilien leben in kommunikativer Abgeschiedenheit. Alles, was sie für ihre Arbeit brauchen, liegt ein paar Schritte entfernt. Bei Facebook gibt es sogar Automaten, bei denen man sich ein neues iPad oder ein Ladegerät ziehen kann. Der Gang zum Beschaffungswesen entfällt. Kontakt mit der Außenwelt stört, wenn man ihn nicht gerade selbst sucht.

Für Europäer hat diese Kultur weitreichende Folgen: Unsere Zukunft wird in 10.000 Kilometern Entfernung von einem Tal geprägt, bei dem wir nicht mitmachen dürfen, wenn wir nicht persönlich hinfahren. Selbst voll dabei zu sein oder gar keine Rolle zu spielen – das ist die Wahl, vor die uns das Silicon Valley stellt. Viele Firmen rund um Palo Alto besitzen kein Festnetztelefon mehr und stehen nicht im Telefonbuch. Sie telefonieren ausschließlich mobil. Wer nicht das Glück hat, die Handynummern zu kennen, erreicht sie nicht. Wer noch niemanden kennt, kann auch niemanden treffen. Aufgeschlossen für Fremde ist im persönlichen Gespräch zwar jeder, doch den elektronischen Kommunikationswegen entziehen sich die meisten. Es ist schwer, eine Reise ins Silicon Valley vorzubereiten. Termine aus der Ferne zu vereinbaren, gelang mir nur bei etablierten Unternehmen, nicht bei Start-ups. Niemand antwortete auf EMails, niemand ging ans Telefon. Erst dachte ich, ich mache etwas falsch. Doch einmal angekommen, wurde klar: So läuft es immer. Ein Investor musterte unverhohlen meine Visitenkarte. »Aha, Sie wohnen hier? In Palo Alto? Interessant.« Von diesem Moment an nahm er mich ernst. Herkunft, Geschlecht, Religion, Alter – dafür ist das Silicon Valley blind. Nur bei der persönlichen Anwesenheit ist man unerbittlich: Wer nicht hier wohnt, findet nicht statt. In den ersten Tagen versuche ich die Gesprächsanbahnung noch auf dem traditionellen Weg: Ich schreibe nette E-Mails. Doch niemand antwortet. Wenn es doch einmal Telefonnummern gibt, geht niemand an den Apparat. Im besten Fall melden sich die Anrufbeantworter. Auf die Nachrichten, die ich hinterlasse, ruft nie jemand zurück. Telefonzentralen leisten sich nur Großkonzerne. Alle anderen betreiben Sprachcomputer, die den Anrufer in eine Endlos-Warteschleife weiterleiten oder den aufgesprochenen Text in E-Mails verwandeln, die niemand liest. Nicht nur mir geht es so. Alle neu Zugezogenen haben das gleiche Problem. Der Eintritt in die interessanten Kreise von Palo Alto ist schwer, wenn man es virtuell versucht.

Spontane Besuche bei Firmen sind aussichtslos. Schon deshalb, weil man die Adressen nicht kennt. Zwar hat natürlich jede Firma eine Webseite, doch da steht fast nie eine Anschrift. Selbst das Firmenverzeichnis Crunchbase hilft nicht weiter. Viele Firmen geben keine Büroadresse mehr an. Sie wollen absichtlich nicht gefunden werden. Die einzige Möglichkeit, Kontakt zu knüpfen, besteht über persönliche Empfehlungen in Netzwerken wie von etablierten Mitgliedern der Gemeinde.

Das ist einer der Gründe, warum so wenig Geld aus dem Silicon Valley nach Deutschland fließt und Gründer herkommen müssen, wenn sie etwas von den jährlich 15 Milliarden Dollar Wagniskapital abbekommen möchten. Ich treffe Matthew Le Merle, den Vorsitzenden des Netzwerks Keiretsu, in dem Business Angels organisiert sind – Anleger, die privates Geld in junge Firmen investieren. »Im Silicon Valley geht nichts ohne direkten menschlichen Kontakt«, sagt auch Le Merle. Persönliche Beziehungen sind wichtiger als alles andere. »Man muss sich kennen und vertrauen, um irgendetwas zu erreichen. Ich kenne niemanden, der gern Geschäfte macht mit Leuten, die er nicht täglich besuchen kann. Ständiger Austausch ist wichtig für den Erfolg. Lange Anreisen erhöhen die Komplexität und senken nachweislich die Erfolgswahrscheinlichkeit. «

Ausgerechnet das Silicon Valley. Hunderte von Firmen wetteifern hier um die beste Technologie für virtuelle Kommunikation: Videokonferenzen, Hangouts, soziale Netzwerke, Pinnwände. Googles Datenbrille »Glass« projiziert Nachrichten direkt auf die Netzhaut. Ingenieure träumen davon, Kommunikationsmodule direkt ins Gehirn zu pflanzen. Die Grenzen zwischen Hier und Dort verschwinden. Erwartet hatte ich von meiner Reise eine hypervirtuelle Welt: Heimarbeit, ständige Videokonferenzen und elektronischen Zugang zu jedermann. Doch virtuelle Welten sind out. Sie sind nirgendwo so unbeliebt wie bei ihren eigenen Erfindern. Matthew Le Merle nickt: »Es sind superdichte Netzwerke auf engstem Raum. Nur unter solchen Bedingungen entstehen starke Ideen. Kreativität braucht Nähe.«

»Jeder Anruf von außen würde uns ablenken«, bestätigt Akshay Kothari von Pulse. »Wir haben gar nicht die Mittel, uns um jeden zu kümmern, der etwas von uns will. Es gibt zu viele Zeiträuber. Wir möchten unser neues Produkt so schnell und so gut wie möglich auf den Markt zu bringen. Die Zeit ist knapp. Jeder Tag ist kostbar. Wenn wir zu spät sind, überholt uns die Konkurrenz. Wir müssen unseren Vorsprung verteidigen. Jeder im Team weiß: Es gilt, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Ob wir auf die vielen Einladungen zu Kongressen oder auf alle Anfragen aus dem Ausland antworten oder nicht, macht für den Projekterfolg kaum einen Unterschied. Wir kennen die Leute, die uns helfen können. Wer nicht dazugehört, den müssen wir für eine Weile ausblenden. Anders geht es nicht.«

In gesteigertem Maße gilt das für arrivierte Unternehmer. Wer es geschafft hat, ertrinkt in Anfragen. Jack Dorsey, der Gründer von Twitter zum Beispiel, bekommt fast so viel Post wie ein Popstar. »Ich könnte keinen klaren Gedanken fassen, wenn ich mich darauf einlassen würde«, sagt er. Don Valentine, der legendäre Gründer von Sequoia Capital, würde keinen Schritt vor die Tür tun können, wenn er nicht das meiste Unbekannte ausblenden würde und sich nicht darauf verließe, die richtigen Leute von seinen Freunden und Partnern vorgestellt zu bekommen. Valentine hat früh in Apple, Oracle, Cisco, Electronic Arts, Google, Instagram, PayPal und Whatsapp investiert. Wo er Geld hineinsteckt, verbreitet sich Glanz. Jeder möchte mit ihm arbeiten. Konzentrieren kann er sich nur mit radikalem Tunnelblick.

»Man muss sich seinen Bekanntenkreis wie einen Filter vorstellen «, sagt Ron Conway von SV Angels. »Meine Bekannten wissen, dass ich ihnen vertraue. Wenn sie mir jemanden vorstellen, der mir die Zeit raubt, vergeuden sie soziales Kapital. Also überlegen sie sich dreimal, ob sie eine Intro-Mail schreiben. Gleichzeitig wissen sie, wie sehr sie mir helfen können, wenn sie mir ein junges Supertalent ans Herz legen, das gerade in die Stadt gekommen ist. Vielleicht ist es ja der neue Mark Zuckerberg.« Diese beiden entgegengerichteten Überlegungen spielen sich in ihrem Kopf ab, bevor sie schreiben, sagt Conway. So kommt genau die richtige Menge von Empfehlungen heraus – weder zu viele noch zu wenige. »Umgekehrt weiß jedermann, dass ich es genauso mache.

Wenn ich jemanden vorstelle, lohnt es sich meistens, ihn zu treffen. Durch diesen Filter überleben wir in der Flut von Gespr.chswünschen, die auf uns einprasselt.« Während ich auf der Hightech- Konferenz TechCrunch Disrupt mit ihm spreche, schiebt sich Conway wie ein Preisboxer durch die Masse von Gründern, die ihm Exposés in die Hand drücken möchten. Er sagt ein paar unverbindliche Sätze, bleibt hier und da stehen, schiebt die meisten Bittsteller aber sanft zur Seite. Es geht nicht anders. Natürlich besteht Inzuchtgefahr. Wenn man nur noch mit Leuten redet, die man schon kennt, fällt einem irgendwann nichts Neues mehr ein. Aber auch gegen diese Gefahr hat Palo Alto ein Rezept gefunden. Es hilft die dörfliche Struktur. Man läuft einander über den Weg. »Zufällige Gespräche führen oft zu wichtigeren Ergebnissen als geplante«, sagt Ron Conway. »Innovation entsteht aus Inspiration, und Inspiration aus Überraschung. Niemand weiß, welche Kombination von Einflüssen sein nächstes Projekt beflügelt. Also tun alle gut daran, sich treiben zu lassen.« Daraus entsteht eine Kettenreaktion, nicht unähnlich der Atomphysik: Hohe Dichte, große Nähe und kritische Masse lösen eine Reaktion aus. Mit virtueller Kommunikation wäre das unmöglich. Ganz gleich, wie geschickt die Technik der Videokonferenz künftig noch verfeinert wird: Zu einer Konferenz muss man sich verabreden und schaltet damit den Faktor Zufall aus. Konferenzen sind keine spontanen Begegnungen. Und selbst das schärfste Bild und der klarste Ton ersetzen kein persönliches Treffen im University Café. Jede Chance zum sozialen Austausch wird in Palo Alto dankbar ergriffen. Gartenpartys finden in endloser Folge statt.

Unseren Einstieg in die Szene von Palo Alto schaffen wir über eine Party in unserem Haus an der Washington Avenue. Unser Nachbar Danny Shader kommt hinzu und stellt uns wichtigen Leuten vor. Von da werden wir weitergereicht. Ein Kontakt ergibt den nächsten. Alle verlaufen nach demselben Muster: Wir werden vorgestellt, tauschen Karten aus, schreiben Mails – meist innerhalb weniger Minuten. Niemand lässt sich mit dem Nacharbeiten mehr als eine Stunde Zeit. Nach Terminen treffen Follow-up-Mails von unseren Gesprächspartnern ein, noch bevor wir das Auto auf dem Parkplatz erreichen. Die Begegnung mit dem empfohlenen neuen Kontakt findet meist wenige Tage später statt. Europäer, die sagen müssen: »Mittwoch fliege ich zurück«, ernten Schulterzucken. Ein bekannter Investor weigert sich, überhaupt so etwas Unpersönliches wie einen Bürotermin zu vereinbaren. Er geht aus Prinzip mit seinen Gästen nur Wandern. In der Hitze des Sommers ist das kein Vergnügen. Mein Kollege Martin Sinner nimmt die Herausforderung an. Er kommt verschwitzt und ermattet zurück, hat den Mann beim Gewaltmarsch durch die Berge oberhalb der Universität aber so gut kennengelernt, wie es beim Espresso am Schreibtisch niemals gelungen wäre.

Die großen Geschäfte werden am Wochenende oft beim Offroad-Radfahren, beim Tennis oder Golf gemacht. Dutzende Landstraßen ziehen sich durch die Hügel hinter Palo Alto bis zur Half Moon Bay. Am Wochenende sausen kleine Gruppen ehrgeiziger Radfahrer herum, keuchend in Gespräche vertieft. Nebeneinander auf dem Mountainbike steile, wurzelbewachsene Waldwege herabzustürzen, baut offenbar besonderes Vertrauen auf. Andere Gruppen fliegen zum Baden nach Los Angeles. Wieder andere stehen den ganzen Samstag als Baseball-Coachs ihrer Kinder auf dem Platz oder grillen am Strand von Santa Cruz.

Eine gute Kontaktbörse ist oft die Schule. Unsere Kinder werden von der German International School of Silicon Valley (GISSV) förmlich aufgesogen, und wir als Eltern gleich mit. Der Unterricht findet halb auf Deutsch, halb auf Englisch statt. Schulleiter Martin Fugmann schafft es, die Eltern intelligent einzubinden, mehr als nur für Kuchenbacken und Basarverkauf. Er stellt sogar einen Finanzausschuss zusammen, dem es gelingt, binnen weniger Wochen einen Millionenkredit für ein neues Schulgebäude aufzutreiben. Fast jedes Wochenende bietet die Schule Programm. Unzählige Gelegenheiten, zwanglos mit anderen Eltern ins Gespräch zu kommen. Und weil dies das Silicon Valley ist, arbeiten fast alle irgendwo als Unternehmer, Programmierer oder Geldgeber. Interessante Menschen, von denen wir etwas lernen konnten. Zum Beispiel Shivakumar Vaithyanathan, Experte für Künstliche Intelligenz im IBM-Forschungslabor San José. Er bringt Computern bei, Texte fast so gut zu verstehen wie Menschen. Oder Dirk Lüth, ein ausgewanderter Unternehmer aus Deutschland, Gründer von OnCircle und Erfinder einer neuen Methode, Nachrichten auf Webseiten zu bezahlen.

Erstaunliche Folge dieser Kommunikationskultur ist hohe soziale Durchlässigkeit. Selbst Teenager mit außergewöhnlichem Talent werden zu Magnaten vorgelassen, während sie in Deutschland kaum eine Chance hätten, den Siemens-Chef zu treffen. Sie müssen keine Abteilungsleiter, Stabschefs oder Vorzimmerlöwen überzeugen, sondern lediglich einen gemeinsamen Bekannten. Selbst für Newcomer ist das vergleichsweise leicht. Irgendein Mitglied der Elite, das ihnen Türen öffnet, lernen sie immer kennen. Hochbegabte Talente brauchen nach ihrer Ankunft im Silicon Valley meist nur wenige Wochen, bis sie Zugang zu wichtigen Entscheidern haben. Sie werden herumgereicht. Beide Seiten – die Elite und die Neulinge – wissen, dass sie einander brauchen.

Das Beispiel des jungen Deutschen Catalin Voss zeigt, wie Palo Alto funktioniert. Wir lernen Voss über Danny Shader, unseren Nachbarn in der Washington Avenue, kennen. Voss ist gerade 18 Jahre alt und lebt seit drei Jahren auf eigene Faust im Silicon Valley. Ein schmaler, hochgewachsener rothaariger Mann, erkennbar hochbegabt, schnell gelangweilt, aber voller Feuer und Begeisterung, sobald die Sprache aufs Programmieren kommt. Er stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Heidelberg. Beide Eltern sind Biologen. Der Vater gebürtig aus Deutschland, die Mutter aus Rumänien. Als er zwölf war, hörte er vom bevorstehenden Start des iPhone. Er besaß kein Gerät, besorgte sich aber eine Simulationssoftware und begann, Programme für das iPhone zu schreiben. Bedienungsanleitungen gab es nur auf Chinesisch.

Er fuchste sich trotzdem hinein und drehte Videos für YouTube: »Wie man ein iPhone programmiert« – damals noch unbekanntes Terrain für die allermeisten Techniker. Die Videos wurden zum Hit. Drei Jahre hielt es Catalin noch in Deutschland aus. Er be- suchte die Schule, jobbte nebenher, sogar für eine Lokalzeitung. Mit mittelmäßigem Erfolg. In der Schule interessierte ihn alles und nichts. Er sprang von Thema zu Thema. Nebenher gründete er eine Firma und schrieb Programme für einen amerikanischen Designer aus Stuttgart. Mit 15 bewarb er sich aus der Ferne um ein Praktikum bei Steve Capps in Palo Alto. Von Capps stammen Apple-Produkte wie Lisa, Macintosh, Newton und das bis heute gültige Dateiverwaltungsprogramm »Finder«. Geschrieben hat er auch die führende Software für Musikstudios. Inzwischen arbeite- te Capps bei PayNearMe, einem elektronischen Bezahldienst für Einwanderer ohne Bankkonto. Von dem Teenager Catalin Voss aus Deutschland hatte Capps noch nie gehört. Trotzdem lud er ihn zum Vorstellungsgespräch ein, eine für Palo Alto typische Ges- te der Offenheit. Dem Spiegel, der Voss später porträtierte, sagte Capps: »Catalin war hypernervös, sprach schlecht Englisch und trug jeden Tag dasselbe Hemd. Aber irgendwie war er trotzdem nicht der Durchschnittsnerd. Irgendetwas brannte in dem Bur- schen, und wir hatten ja nichts zu verlieren.« In normalen Vor- stellungsgesprächen wäre Voss als Greenhorn vermutlich durch- gefallen, doch Steve Capps heuerte ihn an. So zog Voss im zarten Alter von 15 Jahren nach Silicon Valley und bekam seine Chance. Er reüssierte sofort. Zehn Wochen bekam er Zeit, um eine App zu programmieren, und nach vier Wochen war sie bereits fertig.

Drei Jahre später, als wir Voss treffen, hat er sich fest etabliert. Er studiert in Stanford, arbeitet eng mit führenden Professoren für Künstliche Intelligenz und automatische Bildverarbeitung zu- sammen, ist Innovator in Residence bei StartX, dem Inkubator von Stanford, und führt ein Forschungsprojekt, das Autisten mit- tels der Google-Datenbrille »Glass« hilft, Emotionen in Gesich- tern zu erkennen. Außerdem hat er eine eigene Firma gegründet. Und das alles mit 18 Jahren. »Mich fasziniert, dass es hier weni- ger Bürokratie und mehr Tatendrang gibt. Außerdem eine hohe Dichte motivierter Menschen, die hart arbeiten«, sagt Voss. Er strahlt, weil er gerade einen Freund zur Führerscheinprüfung nach Sacramento gefahren hat und der bestanden hat. Nach Deutschland ist Voss damals nur kurz zurückgekehrt, um sein Abitur zu machen. Danach nahm er das Studium in Stanford auf. »Technologisch könnte ich in Deutschland sicherlich dieselbe Arbeit machen wie hier.« Voss wirkt nachdenklich. »Aber da wäre ich nie auf die Idee gekommen, damit anzufangen. Und ich hätte niemanden um Rat fragen können. Es gibt da nicht so viele gute Mentoren, und sie hätten sich nicht so intensiv mit einem Teenager wie mir abgegeben. « Im Silicon Valley muss man mit guten Ideen keine Befehlsketten durchlaufen. Chefs haben Zugang zu Anfängern und Unerfahrenen, und umgekehrt genauso. Beide Seiten profitieren von dieser Offenheit. Geld und Talent brauchen einander. Hierarchien stehen der Innovation nur im Wege.

Der Organisationstheoretiker Geoffrey Moore, selbst ein Produkt des Silicon Valley, hat dazu eine soziologische Theorie entwickelt: »Die Leute helfen einander in einem strategischen Akt der Gro.zügigkeit. Die Hilfe beruht auf Gegenseitigkeit. Sie zielt darauf ab, Ideen ständig zu verbessern und sie schneller zu verwirklichen. In einer Informationsgesellschaft ist Information die wichtigste Währung.« Geredet wird also auch aus Kalkül, nicht nur aus Mitteilungsdrang oder Geschwätzigkeit.

Das Ausmaß der Offenheit ist verblüffend. Aus Europa bin ich es gewohnt, Fremden keine indiskreten Fragen zu stellen. Als indiskret gilt bei uns nahezu jede Frage, die mit Geld zu tun hat, Rückschlüsse auf die finanziellen Verhältnisse zulässt oder Einblicke in Geschäftsgeheimnisse gewährt. In Palo Alto gilt das genaue Gegenteil. Es ist völlig normal, in den ersten zehn Minuten ein Stakkato aller wichtigen Fragen abzufeuern: Wie viel Geld habt ihr von den Investoren bekommen? Wie viel ist davon noch übrig? Wie viel Verlust schreibt ihr pro Monat? Was kosten eure Programmierer? Wie viele Anteile besitzt ihr als Gründer noch selbst? Was sind diese Anteile wert? Wie hoch ist euer Gehalt? Von wem wollt ihr das nächste Geld bekommen? Woran arbeitet ihr gerade? Wann erscheint das neue Produkt? Welche neuen Eigenschaften hat es? Wo hakt es bei der Entwicklung? Was geht schief, was läuft gut? – Freunde raten mir, solche Fragen zu Beginn von Gesprächen zu stellen. Erst zögere ich. Es kostet etwas Überwindung. Als ich es dann probiere, funktioniert es besser als erwartet.

Deutsche halten solche Fragen für eine Zumutung, weil sie fürchten, bestohlen zu werden. Geschäftsgeheimnisse werden bis zur Veröffentlichung des Produkts eifersüchtig gehütet. Erst danach soll die Welt erfahren, wie genial ihre Erfindung ist. Die deutsche Kultur des Geheimnisses wurzelt ideengeschichtlich wohl im Geniekult der Romantik. Einsame Genies, so die Legende, empfangen Inspiration aus sich selbst und bringen sie ohne Zutun Dritter im Kunstwerk hervor. Sie benötigen keine Interaktion mit ihrer Umwelt. Schon in der Romantik war dieser Mythos falsch. Inspiration ohne Austausch mit den anderen gibt es nicht. Erst recht falsch ist er im Zeitalter der Hochtechnologie. Während die Deutschen die Wegnahme eines Geniestreichs fürchten, lebt Kalifornien in der permanenten Angst, vom intellektuellen Austausch abgeschnitten zu sein und nicht jeden Impuls aufzunehmen, der sich anbietet. Nichts heizt diese Angst so sehr an wie die Vorstellung, während der Produktentwicklung einen Denkfehler zu begehen, und diesen Lapsus erst nach dem Marktstart zu bemerken. Deutsche Unternehmer halten gern für perfekt, was sie in geschlossenen Expertenteams entwickeln, und fürchten, um diese Perfektion betrogen zu werden. »Kalifornische Entwickler hingegen wissen, dass nichts perfekt ist, was sie tun, und sie ihrem Verständnis von Perfektion nur näher kommen können, wenn sie alles aufsaugen, was ihre Umgebung an Eingaben zu bieten hat«, sagt Investor Le Merle. Schweigen und Verstecken ergeben sich daraus notwendigerweise als Strategie der Deutschen, Reden und Vorzeigen als Strategie der Kalifornier. Mit Erfolg punktet meistens Kalifornien.

Offenheit ist unschlagbar. Jeder Gedanke wird besser, wenn man ihn anderen erzählt. Er wird präziser, schärfer und klüger. Besonders wichtig ist das bei Software, heutzutage die Königsdisziplin des Silicon Valley. Todd Lutwak, Partner bei Andreessen Horowitz, sagt: »Software frisst die ganze Welt auf. Eine Industrie nach der anderen wird von ihr neu erfunden.« Bei Computerprogrammen geht es weniger um geniale Erfindungen als um ständiges Feilen an Details. Solche Detailarbeit ist umso erfolgreicher zu leisten, je leidenschaftlicher man sie im Diskurs zur Debatte stellt. Der Typ des einsamen Denkers kommt nicht weit. »Kalifornische Gründungen sind nicht zuletzt deswegen so erfolgreich, weil sie zahlreiche Evolutionsschritte hinter sich haben, bevor das erste fertige Produkt auf den Markt kommt«, fügt Lutwak hinzu. »Start-ups sind eigentlich mit nichts anderem beschäftigt als damit, ein Geschäftsmodell zu finden «, meint auch Ron Croen, Gründer von Nuance Communications. »Entsprechend richtig für sie ist es, das Ökosystem, den Markt zu verstehen, in dem sie tätig sein wollen. Je mehr sie darüber reden, desto weiter kommen sie.«

Geschwindigkeit ist dabei von größter Bedeutung, denn Märkte und Technologien ändern sich rasend schnell. »Ein bis drei Monate sind eine Ewigkeit im Silicon Valley«, findet Zach Phillips, Vice President Publisher Development bei PlayHaven. Niemand in Palo Alto würde ihm widersprechen. Wer nicht ständig offen über seine Projekte diskutiert, der riskiert, dass sein Produkt schon am Tag des Erscheinens hoffnungslos veraltet ist. Die Konkurrenz ist allgegenwärtig, und die Chance, dass ihr etwas Besseres einfällt, ebenso. Schon zur Marktbeobachtung ist es unerlässlich, so viel von sich zu erzählen und von anderen zu hören wie möglich. PayPal-Gründer Peter Thiel meint: »Das größte Risiko beim Gründen besteht darin, etwas bereits Vorhandenes neu zu erfinden oder das Neue nicht bis ins letzte Detail zu durchdenken. Dieses Risiko kann man nur durch Offenheit in der Entwicklungsphase bekämpfen. Wer aus seinem Projekt ein Geheimnis macht, hat verloren.« Folgerichtig spricht er offen über seine Pläne.

SAP-Gründer und Aufsichtsratschef Hasso Plattner, mit über 3000 Mitarbeitern in einem Entwicklungslabor in Palo Alto vertreten, hält diesen Austausch für so unverzichtbar, dass er sogar den Heimatstandort im hessischen Walldorf bedroht sieht, weil dort zu wenig fachlicher Diskurs stattfindet. In einem Interview mit der Welt am Sonntag sagte er: »Man ist in Walldorf einfach etwas ab vom Schuss, und deswegen gibt es dort weniger kreative Impulse. Softwareingenieure, die in Palo Alto oder Berlin Kollegen aus anderen Unternehmen im Café oder an der Bar treffen, müssen sich rechtfertigen, wenn etwa eine neue SAP-Nutzeroberfläche langweilig daherkommt. In Walldorf passiert ihnen das nicht, weil sie dort im Restaurant oder Café keine kritischen Köpfe aus anderen Firmen treffen.« Für viele andere Standorte in Deutschland könnte man einen ähnlichen Befund stellen.

Kritische Köpfe sind eine Spezialität der Stanford University. Nichts von dem, was heute in Palo Alto zu sehen ist, wäre ohne Stanford entstanden. Zeit für einen Besuch auf dem Campus.

Leseprobe 1: Das Inhaltsverzeichnis meines Buchs über das Silicon Valley
Leseprobe 2: Palo Alto, explosives Gemisch aus Geist und Geld

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