Leseprobe 2: Palo Alto, explosives Gemisch aus Geist und Geld



Am heutigen Montag erscheint mein Buch “Silicon Valley – Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt”. (Knaus, 19,99 Euro). Mit freundlicher Genehmigung des Verlags hier als Leseprobe das Kapitel über Palo Alto, das am Anfang des Buches steht:


Alle Leseproben im Überblick:

Leseprobe 1: Inhaltsverzeichnis
Leseprobe 2: Palo Alto, explosives Gemisch aus Geist und Geld
Leseprobe 3: Analoge Arbeitskultur – Wer nicht am Ort ist, spielt keine Rolle

Das Buch ist bei Amazon hier erhältlich.

Die Rezension der Frankfurter Allgemeinen Zeitung steht hier.


Palo Alto: Explosives Gemisch aus Geist und Geld

Es weht ein Hauch von Revolution: Wie ein Universitätsstädtchen am Rande der Welt zum Austragungsort des 21. Jahrhunderts wurde und warum seine Einwohner immer alles infrage stellen, was bisher als ausgemacht galt.

Die Passagiere klettern müde aus ihren Sitzen. Draußen schlägt uns milde Luft entgegen. 19 Grad. Willkommene Abwechslung zu Berlin, das wir bei Eis und Schnee verlassen haben, begleitet von viel Schulterklopfen: »Viel Spaß im Urlaub.« Dass man nach Kalifornien zum Arbeiten geht, passt bei manchen nicht ins Klischee. Nach umständlicher Visaprozedur besteigen wir unseren Mietwagen, einen siebensitzigen Toyota. Es geht Richtung Süden auf dem Highway 101, der Hauptverkehrsader des Silicon Valley. Wolken hängen über den Küstenbergen und fließen an den Hängen hinunter zum Flughafen. San Francisco ist ein Schlechtwetterloch. Mark Twain hatte recht: Die Sommer sind hier oft kälter als die Winter in den Bergen. Doch es gibt ein erstaunliches Mikroklima. Nach ein paar Kilometern bricht die Sonne durch; die Temperatur steigt um fünf Grad. Wenige Orte auf der Welt bergen solche Temperaturunterschiede auf so kurzer Distanz. 15 Grad Differenz sind es im Hochsommer zwischen San Francisco und San José. Palo Alto, nur 40 Kilometer von San Francisco entfernt, ist rund ums Jahr sonnig und warm. Die Entscheidung zwischen San Francisco und dem Silicon Valley ist auch eine Entscheidung zwischen Frieren und Schwitzen, Großstadt und Dorf. Kaum ein Abendessen in der Bay Area, bei dem die Glaubensfrage des Wohnsitzes nicht leidenschaftlich diskutiert wird.

Der Highway ist in erbarmungswürdigem Zustand. Es fehlen streckenweise die Spurstreifen. Leitplanken rosten, abgeplatzte Lastwagenreifen liegen herum, und Furchen tun sich auf. Reiche Bürger, armer Staat, das sind auch kalifornische Verhältnisse, nicht nur italienische. Der Golden State lebt in prekären Verhältnissen. Er bleibt seinen Angestellten manchmal wochenlang das Gehalt schuldig; Dienstleister werden mit Wechseln statt mit Bargeld bezahlt; Schulen und andere Institutionen müssen selbst sehen, wo sie bleiben. Vergleichsweise gut geht es nur den reichen Kommunen im Silicon Valley. Ihre Steuereinnahmen sprudeln. Palo Alto, knapp 70 000 Einwohner groß, ist eine der reichsten Gemeinden Amerikas. Viel Aufhebens macht die Stadt allerdings nicht davon.

Bescheidenheit ist erste Bürgerpflicht. Ein 08/15-Schild auf dem Highway verkündet »Next 3 Exits Palo Alto«. Wer abgelenkt ist, rauscht achtlos daran vorbei. Schrifttafeln in den Bergen wie in Hollywood oder verspielte Straßenschilder wie in Beverly Hills gibt es nicht. Wir steuern auf die Ausfahrt »University Avenue« zu. Hier geht es nach Stanford, der wichtigsten Hochschule des World Wide Web. Doch das Ausfahrtsschild sieht aus wie jedes andere: grün, sachlich, mit Funkelnägeln für die Nachtreflektion. Nur wenig Extravaganz leistet sich die Gemeinde: ein geschnitztes, bunt angemaltes Ortseingangsschild aus Zedernholz gleich hinter der Autobahn: »Welcome to Palo Alto«. Wahrscheinlich hat es der Rotary-Club gespendet.

Gleich hinter der Holztafel lässt Palo Alto es regnen. Ihren Reichtum drückt die Gemeinde durch den verschwenderischen Umgang mit Wasser aus. Die kalifornische Steppe, von April bis November gelb wie Stroh, weicht einem Garten Eden. Hohe Bäume säumen die Straßen, jeder auf die perfekte Form gestutzt. Blumenbeete prangen in den Vorgärten. Bunt gestrichene Holzzäune säumen die Grundstücke. Offene Veranden mit weißen Schaukelstühlen leuchten in der Sonne. Die sauber getrimmten Hecken geben den Blick auf gepflegte Häuser frei. Nichts ist versteckt, alles wirkt offen. Trottoirs laden zum Spazieren ein. Flaneure tragen Sommerhüte aus Stroh, weiße Hosen und Slipper aus Leinen oder Leder. Wir sehen einen Mann im breit gestreiften, blau-roten Jackett, als ginge er zu einer englischen Landpartie, dabei steuert er nur auf Wells Fargo zu. Studenten laufen in Shorts und Flip-flops herum.

Kein Wölkchen erinnert ans kalte San Francisco. »Warum hängen die Kabel an Masten und liegen nicht unter der Erde«, fragen die Kinder. Stimmt, wie schwarze Spaghetti baumeln Strom- und Telefonkabel an den braun imprägnierten Stämmen. Die University Avenue führt in die winzige Innenstadt. Eine einzige Einkaufsstraße gibt es, keine Fußgängerzone, ein paar Geschäfte in den Nebenstraßen. Aber viel Publikum. Es wimmelt auf den Bürgersteigen von Leuten. Die Cafés und Restaurants sind immer zum Bersten voll. Ohne Reservierung geht nichts. Bei den populären Restaurants wie dem Evvia in der Emerson Street muss man sich Wochen vorher anmelden. An den Bäumen hängen noch die Weihnachtssterne und elektrischen Tannenbäume. Kleinstadt, Studentenmetropole, Wirtschaftszentrum und Hippie-Kommune, Palo Alto ist alles auf einmal. Wir fahren an einem Yogaladen vorbei, einem Esoterikshop, einem indischen Klangschalenhändler. Gegenüber die Baguetterie, ein halbes Dutzend elegant-entspannter Möbelgeschäfte, ein israelischer Hummus-Imbiss und das University Café, in dem Milliardendeals gemacht werden. Einen Spezialisten für Waffeleis gibt es, vor dem die Leute Schlange stehen, ein pleitegegangener Buchladen, den Samsung gerade zu einem Inkubator für Firmengründungen umbaut, einen riesigen Fahrradladen, dazu Cafés, Friseure, Kioske und drei Programmkinos. Diese Kinos sind ein Phänomen: Bollwerke gegen die Massenkultur. Sie zeigen nur Klassiker aus den 20er bis 30er- Jahren. Blockbuster sind tabu. Ein reizendes Antiquariat konnte sich halten. Lincolns Gettysburg Address ist gleich in mehreren Originalausgaben erhältlich. Als ich dort ein paar Tage nach der Ankunft stöbere, ist der Laden gut gefüllt, und dabei bleibt es. Intellektuelle bilden in diesem Ort die Mehrheit, ganz ähnlich wie in Harvard oder Oxford.

Palo Alto ist der Gegenentwurf zu New York. Ihren Aufstieg von der ruhigen Universitätsstadt zum Zentrum einer globalen Industrie hat die Stadt auch dem Abstieg von Manhattan zu verdanken. Die 80er-Jahre waren die Blütezeit der Finanzbranche. Spekulanten wie die Kunstfigur Gordon Gekko, in Oliver Stones Film Wall Street durchaus realitätsnah dargestellt, schufen ein Rollenmodell, dem Millionen junger Menschen kritiklos folgten. Schnell reich zu werden, ohne selbst etwas Bleibendes zu schaffen, galt als Inbegriff des amerikanischen Traums. Einen Job im Investmentbanking zu ergattern, Firmen billig zu kaufen, zu zerschlagen, teuer wieder zu verkaufen und damit ein Vermögen zu verdienen – das erschien vielen als erstrebenswerte Karriere. Ins Wanken geriet dieses Leitbild erst durch die zahlreichen Betrugsskandale und die Börsencrashs von 1987, 2000 und 2008. Die Bewunderung für die Wölfe der Wall Street schlug in Kritik und Ablehnung um, und eine neue Generation von Schulabsolventen grenzte sich ganz bewusst von einer seelenlosen Form des Kapitalismus ab. New York verlor diesen Nimbus. Viele, die früher Betriebswirtschaft studiert hätten, wurden Ingenieure und Programmierer. Die Erfindung des World Wide Web gab ihnen ein aufregendes Betätigungsfeld. Diese neue Generation sammelte sich an der Westküste. An den Universitäten dort herrschte ein explosives Traditionsgemisch aus Ingenieurskunst und Unternehmergeist. Hier galt das Schaffen bleibender Werte als selbstverständlich. Palo Alto versprach Lebenssinn, und New Yorks Finanzwelt konnte dem wenig entgegensetzen. Im Laufe der Zeit löste die Computerindustrie New Yorks Finanzwirtschaft als Schlüsselbranche ab. Eine neue Ära begann, und das verträumte Städtchen Palo Alto entfaltete jählings die gleiche magnetische Wirkung wie früher New York. Es wurde cool, hierherzuziehen.

Das Silicon Valley mutierte zu einem Brennpunkt der Gegenwart. Wir spüren diese Stimmung sofort. Palo Alto ist kein Getto für Firmensöldner wie La Défense vor den Toren von Paris. Palo Alto ist hip, nonkonformistisch, unkonventionell, gepflegt, aber entspannt. Erste Maßnahme am ersten Wochenende: Shorts kaufen, Flip-flops, Leinenschuhe, Leinenhosen. Ein einziger Anzug hatte in die 20 Kilo Fluggepäck gepasst, und in sechs Monaten Palo Alto habe ich ihn kein einziges Mal angezogen.

Jedem, der herkommt, schlägt revolutionärer Geist entgegen. Seit jeher wird in Kalifornien aufmüpfig gedacht. Ein Land weitab der Regierung in Washington, das sich schon immer in seiner Geschichte alle Freiheiten herausgenommen hat. Querdenker und Revoluzzer gehören zum Inventar. Mit dem Zustrom der Ingenieure in den Neunzigern erlebten die Sixties eine Renaissance. San Francisco, die Stadt der Blumenkinder, Umstürzler und Drogenpropheten, des »Sommers der Liebe« 1967, des Haight-Ashbury Districts, verwandelte sich nun in eine Stadt der Gründer, und umliegende Gemeinden wie Palo Alto zogen mit. Hippie-Mähnen und Batikhemden prägen das Straßenbild zwar nicht mehr, dafür aber Kapuzenpullis und kurzärmlige Muskelshirts im Mark-Zuckerberg- Stil. Der Geist ist derselbe geblieben wie vor 50 Jahren seit dem Monterey Pop Festival, dem Fanal der Hippie-Bewegung: Aufstand gegen das Establishment. Damals mit Musik, heute mit Technik. Computer waren das, worauf Revoluzzer gewartet hatten. Mit ihnen kann man Machtstrukturen mit geringem Aufwand und großer Wirkung angreifen. Viel besser als mit Sit-ins, Demos und Haschbrownies. Jeder kann mitmachen. Querdenker planen die Abschaffung von Großbanken, Telefonkonzernen und Automultis, nur – anders als in den Sechzigern – mit legalen Mitteln. Nicht durch Sabotage, sondern durch Wettbewerb.

Palo Alto ist ein eigenwilliges Gemisch aus Geist und Geld. Geprägt von der Bereitschaft, alles infrage zu stellen. Vom Drang, alles neu zu erfinden. Das herrschende System soll mit seinen eigenen Mitteln geschlagen werden. Die Erfolge dieser Subversion sind beträchtlich. Ironischerweise werden die Althippies von damals nun aus ihren urbanen Biotopen verdrängt. Ihre Tech-Nachfolger haben zwar den gesellschaftlichen Impuls der Sixties aufgenommen, aber eine ganz andere Szene gebildet. Mit echten Hippies will kein waschechter Googler etwas zu tun haben. Folglich schreitet die Gentrifizierung ganzer Quartiere unerbittlich voran. Wer die Gesellschaft verändern will, wird Programmierer, sehr im Unterschied zu Deutschland, wo gesellschaftlich engagierte
Menschen lieber in die Politik gehen. Es ist kein Zufall, dass Apple etwa zur gleichen Zeit wie die Grünen entstand. Palo Alto brachte Steve Jobs und Frankfurt Joschka Fischer hervor. Beide gingen ähnlich radikal zu Werke. Fischer warf Steine, Jobs zertrümmerte Monopole von Microsoft und IBM. Sie unterschieden sich in ihren Mitteln, nicht in ihrem Anspruch auf Veränderung. Der legendäre Wahl- und Werbespruch von Apple (»Think different«) könnte ebenso für die deutschen Reformer gelten. Interessanterweise suchte Apple für seine Kampagne die gleichen Helden aus wie die Grünen in Deutschland: Mahatma Gandhi, Martin Luther King, den Dalai Lama und Albert Einstein.

Anfang der 80er-Jahre war ich Austauschschüler im Silicon Valley. Schon damals war das Tal berühmt für seine Technik-Industrie. Doch es waren vor allem Rüstungsfirmen, die den Ton angaben. Das Moffett Federal Airfield zwischen Mountain View und Sunnyvale diente seit dem Zweiten Weltkrieg als zentraler Militärflugplatz der Region. Rundherum siedelten Firmen des militärisch-industriellen Komplexes, darunter Lockheed. Sie bildeten den Kern der späteren Hightech-Region. Der Kalte Krieg verlangte immer raffiniertere Elektronik für Langstreckenraketen, Frühwarnsysteme, Flugzeugträger, U-Boote und Satelliten. Rund um die Militärbasis in San José und das NASA-Forschungszentrum in Mountain View scharten sich Konzerne, die von den Milliardenaufträgen der Rüstungsprogramme lebten. Das Silicon Valley war eine Außenstelle des Pentagon. Zivile Produkte spielten kaum eine Rolle. Entsprechend elitär war das Internet, damals noch in seiner militärischen Frühform. Armee und Universitäten hatten Zugang, die Öffentlichkeit blieb außen vor. Das Netz diente der nationalen Sicherheit. Es sollte Kommunikation sichern, wenn russische Atomraketen zuschlugen. Im Atomkrieg hätten wenigstens die Daten überlebt.

Den ersten vernetzten Computer meines Lebens sah ich im Sommer 1980 in Palo Alto. Damals war das Netz so neu, dass ich nicht richtig verstand, was ich da sah. Es war ein stickiger Nachmittag im Haus eines Schulfreundes, dessen Familie zur Netzelite jener Tage gehörte: Der Vater forschte an Geheimprojekten für das Pentagon, die Mutter unterrichtete Technik an der Palo Alto High School gleich gegenüber von Stanford, und der Onkel war der legendäre Schachweltmeister Bobby Fischer. Diese Leute waren vermutlich die Einzigen, die wussten, wo das verschollene Schachgenie steckte. Verraten haben sie es mir nicht. Weiter als in solche Kreise reichte das Netz damals noch nicht. Im Arbeitszimmer der Familie stand eine Spielkonsole ohne Bildschirm. Sie war mit dem Zentralrechner von Stanford verbunden und stichelte ihre Ergebnisse per Nadeldrucker auf Endlospapier. Zwischen Wimpeln und Kaffeetassen stand es da einfach herum, das Internet, unauffällig und schlicht. Bastlerkram, schnell vergessen.

Damals überlegte ich, in Kalifornien zu bleiben und zu studieren. Ich entschied mich dagegen. Heute würde meine Antwort anders ausfallen. Wer das Glück hat, als Austauschschüler im Silicon Valley zu landen, setzt vermutlich alles daran, nach Stanford zu kommen, einen Job bei Google, Facebook oder Apple zu ergattern und später vielleicht sein eigenes Unternehmen zu gründen. Doch damals sah die Sache anders aus. Niemand aus meinem Jahrgang, mich eingeschlossen, hatte Lust, hier zu leben. Eine Laufbahn in der Rüstungsindustrie? Unvorstellbar. Daheim demonstrierten wir gegen Pershings, hier wurden sie gebaut. Ich träumte von Medien oder Film. Hollywood, nicht die Computerbranche nahm meine Fantasie gefangen. Unsere Helden hießen George Lucas und Steven Spielberg. Das waren die großen Visionäre jener Tage. Von Steve Jobs hatten wir zwar schon gehört, doch bis zu seinem großen Durchbruch mit dem Macintosh dauerte es noch vier Jahre. Jobs war ein Tüftler. Ein Mann, der Schreibwerkzeuge herstellte, auf denen Lucas und Spielberg Drehbücher verfassen konnten. Ein Bastler, ein Techniker, ein Lieferant. Apple, eine Hinterhof-Klitsche, bot keinen Grund, dort anzuheuern.

Heute ist das Militär auf einen fast unsichtbaren Rest zusammengeschrumpft. Palo Alto könnte ziviler kaum sein. Eine Stadt wie aus dem Handbuch für perfekte Gemeinden. Nicht einfach nur reich, sondern auch noch voller Bürgersinn. Öffentliche Verkehrsmittel kosten nichts, man steigt einfach ein. Städtische Busse werben auf ihrer Karosserie mit lachenden Gesichtern, die für Umweltschutz eintreten: »Free Shuttle – Just hop on«. Es gibt ein kommunales Freibad, fünf öffentliche Bibliotheken, ein stattliches Rathaus, eine prunkvolle Jugendstil-Post, zahlreiche Parks und herausgeputzte Schulen.

Die Bürger behandeln ihre Stadt wie ein Geschenk. Keine Mühe
oder Ausgabe scheint ihnen zu groß, um die Lebensqualität weiter zu steigern. Die ohnehin schon luxuriöse Hauptbibliothek erlebt gerade ein ehrgeiziges Sanierungsprogramm. Im Schwimmbad kostet der Eintritt ein Fünftel des Preises von Berlin. Sitzungen des Stadtrats werden rege besucht; sich aufstellen zu lassen, wenn man gefragt wird, ist eine Selbstverständlichkeit. Fremde auf der Straße zu grüßen, gehört zum normalen Umgangston, und ein Wochenende ohne Straßenfeste gibt es kaum. Es wimmelt von Kirchen aller großen Religionen und Splittergruppen. Rüdes Großstadtgehabe ist unbekannt. An den meisten Kreuzungen stehen keine Ampeln, sondern vier Stoppschilder. Begegnen sich Autos, nehmen die Fahrer Blickkontakt auf und winken sich gegenseitig freundlich die Vorfahrt zu. Lieber wartet man ein paar Sekunden, bis endlich jemand losfährt, als sich vorzudrängeln. Berliner würden Satelliten-Geräte kaufen, die feststellen, wer zuerst an der Kreuzung ankommt. Nicht so in Palo Alto. Hier beharrt man nicht auf Vorfahrt, sondern übt Rücksicht. In einer Meriokratie, in der Rang über Leistung definiert wird, funktioniert interessanterweise auch die Straßenverkehrsordnung besser.

Die Palo Alto High School, neben Stanford der zweite Stolz der Stadt, ist bestechend schön. Viel schöner als damals in meinem Austauschjahr, und größer zudem. Es wurde renoviert und angebaut. Weiße Bauten im spanischen Stil säumen eine palmenbestandene Wiese. Baseball-Mannschaften trainieren auf großen Feldern. Eine eigene Kirche und ein eigenes Theater. Gleich nebenan »Town & Country«, das schönste Einkaufszentrum der Stadt, untergebracht in rustikalen Holzbauten. Die Schließschränke der Schüler stehen unter offenem Himmel. Das Leben findet draußen statt. Weil Palo Alto reich ist, sind auch die Schulen gut. Ich werde ich zwar die an diese Gleichung gewöhnen, aber den Kaliforniern gilt jeder Ausgleich der Lebensverhältnisse durch staatliche Finanzierung schon als Sozialismus. Unterstützt mit viel privatem Spendengeld, gewährt Paly, wie die Schule im Volksmund heißt, die bestmögliche Vorbereitung auf Stanford. Manche reiche Asiaten kaufen bei der Geburt ihrer Kinder eines der millionenteuren Häuser im Ort, ohne dort zu leben – nur weil es dann einen Rechtsanspruch auf den Besuch von Paly gibt. Ein Traum für Tigermoms und Helicopter-Dads. Immer wieder kommt es zu Wohnsitzbetrug: Auswärtige Eltern bezahlen Einwohner, damit sie ihre Kinder unter falscher Adresse anmelden können. Etwas Gutes hat der Paly-Kult allerdings: Es gilt als Ehrensache, Geld für Public Schools zu spenden. Öffentliche Schulen sind moralische Pflicht, Privatschulen verpönt. Höchst ungewöhnlich für die USA.

Der Ort macht wenig Aufheben um seine Geschichte. Gelebt wird in der Zukunft. Alles Vergangene verschwindet aus dem Blick. So zum Beispiel die Garage, in der William Hewlett und David Packard 1939 ihr Unternehmen gründeten. Sie steht noch heute, gehört aber zu einem Privathaus und ist nicht öffentlich zugänglich. Lediglich eine Plakette im Vorgarten erinnert an die Gründer. Andernorts gäbe es Touristenrummel und Souvenirhändler. Palo Alto ist anders. Wer nicht weiß, wo die Garage steht, findet sie nicht: 367 Addison Avenue. Um die Ecke, an der Lincoln Avenue, ziehen wir mit der Familie ein. Die HP-Garage entdecken wir nur durch Zufall. Ganz ähnlich der Medaillon Rug Store auf der University Avenue, ein Teppichhändler, der Innovationsgeschichte schrieb, weil er Büros an Facebook-Gründer Mark Zuckerberg vermietete. Unweit davon der Apple Store, in dem Steve Jobs ständig nachschaute, wie seine Geräte im Laden wirkten. Unsichtbar
auch das Elektronikgeschäft, in dem Apple erfunden wurde. Steve Jobs und sein Mitgründer Steve Wozniak, damals noch Twens, hatten Computer-Platinen für das Geschäft hergestellt, bis der Besitzer sie bat, die Komponenten zu einem fertigen Gerät zusammenzuschrauben. Sie taten das nur widerwillig – Bausätze galten damals als angesagter. Wer wollte schon einen fertigen Computer kaufen? Doch Jobs und Wozniak brauchten das Geld. Heraus kam der Apple I. Der Elektronikladen ging später pleite. Ein Erotikshop zog ein, und der ist ebenfalls Geschichte. Apples Gründungsstätte ist schlicht vergessen worden. Reliquien werden allenfalls im Computer History Museum von Mountain View gesammelt. Der Besuch dort lohnt sich übrigens sehr.

Nur wenig auffälliger ist PARC, das Palo Alto Research Center, in den Bergen oberhalb der Universität. Im Auftrag des Kopierkonzerns Xerox betrieb PARC Grundlagenforschung. Hier wurden die Maus und die grafische Benutzeroberfläche erfunden. Xerox wusste damit nichts anzufangen, doch Steve Jobs kopierte die Idee. Ein Freund hatte ihn zu PARC gebracht. Jobs ging nur gezwungenermaßen mit, erkannte aber das Potential und baute seine Computer um die Idee herum. Ohne PARC gäbe es heute weder Smartphone noch Tablet. Doch nicht einmal eine Gedenktafel erinnert dort an die Geschichte. Es ist einfach nur ein flacher, unscheinbarer Bungalow in den Bergen.

Das Gemisch aus Geist und Geld zündet immer da, wo kreative Köpfe zusammenkommen. Der Funke springt kreuz und quer durch die Stadt. Mal leuchtet er hier auf, mal da. Selbst Insider tun sich schwer, seinem Verlauf zu folgen. Projekte beginnen meist irgendwo auf dem Campus der Universität. In einem der vielen Cafés, auf irgendeiner Wiese in der Sonne, auf einem Basketballplatz. Immer dort, wo zwei, drei Gleichgesinnte etwas planen. Sie nisten sich irgendwo ein. Räume stellt die Uni kostenlos zur Verfügung. Meistens campieren Start-ups aber in den Hinterzimmern von Wagniskapitalgebern, in Wohngemeinschaftsküchen, Wohnheimzimmern, Co-Working-Spaces oder bei Inkubatoren. Mehr als einen Küchentisch und Laptops braucht es nicht.

Eine gewisse Weltvergessenheit gehört zum Genius Loci dazu. Palo Alto lebt so sehr in virtuellen Zukunftswelten, dass Unbequemlichkeiten des Alltags kaum ins Gewicht fallen. Durch das Silicon Valley rast nicht etwa ein computergesteuerter Magnetzug, sondern es zuckelt eine schnaufende Diesellokomotive. Die Strecke nach San Francisco ist nicht elektrifiziert, und an den gefährlichen Bahnübergangen heult Tag und Nacht die Sirene auf. Ein Anachronismus. Wir können in den ersten Nächten kaum schlafen, obwohl der nächste Bahnübergang anderthalb Kilometer entfernt liegt. Die Sirene hat es in sich. Auf der anderen Seite der Bucht fährt seit den 70er-Jahren BART, Bay Area Rapid Transit, seinerzeit das modernste öffentliche Nahverkehrssystem der Welt, mit vollautomatischen Zügen ohne Fahrer und Schaffner. Das Silicon Valley auf der westlichen Seite der Bucht hätte sich anschließen lassen können, doch in Volksabstimmungen fiel der Ausbau durch. Irgendwie leuchtete den Leuten der Vorteil nicht ein. So lassen sich die Bürger bis heute lieber aus dem Schlaf reißen, als in Elektrozüge zu investieren. Das Silicon Valley ist nicht modern, es baut nur moderne Produkte.

In krassem Unterschied zur Rückständigkeit beim öffentlichen Nahverkehr steht die Begeisterung für ökologisches Denken. Gesunde Ernährung ist ein Dauerthema. Kaum jemand verpflegt sich ohne Organic Food. Ganz Palo Alto kauft bei Wholefoods ein, einem Biosupermarkt der Extraklasse. Qualität, Frische und Konsequenz sind vorbildlich. Wholefoods steht mitten in der Stadt, rings herum siedeln Start-ups. Gründer werben beim Einstellen von Mitarbeitern mit der Nähe zu dem Geschäft. Die Regale quellen über von veganen Spezialitäten, in jedem Gang ist auf Schildern vermerkt, wie viel Prozent der Waren aus der Region kommen. Auch Mülltrennung wird mit Leidenschaft betrieben. Schulklassen unternehmen Pflichtausflüge in die Aufbereitungsanlage und führen Recycling-Lehrstücke in der Aula auf. Green Technology gehört an der Universität zu den Forschungsschwerpunkten. Nicht weniger Ingenieure arbeiten an sauberer Energie als an der Weiterentwicklung des Internet. Elektroautos boomen, und Innovationsführer Tesla sitzt mit seiner Zentrale am Ort. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird das erste vollautomatische, sich selbst steuernde, emissionsfreie Serien-Elektroauto der Welt aus Palo Alto kommen.

Unser Toyota rollt auf das Ziel der Reise zu. Eigentlich sind es zwei Ziele: 481 Washington Avenue und 381 Lincoln Avenue. Das Haus in der Washington Avenue hat unsere Firma gemietet, in die Lincoln Avenue zieht auf eigene Kosten meine Familie ein. Das Firmenhaus, ein Neubau im spanischen Hazienda-Stil, dient meinen Kollegen und mir als Wohngemeinschaft. Ringsherum blühen die Hecken, die Sandsteinfassade leuchtet in der Sonne, und ein gewaltiger Baum mit mächtigem Stamm spendet Schatten im Garten. Bäume wie dieser gaben Palo Alto den Namen: »Hoher Stamm«. Gefrühstückt wird in der Küche, getagt im Wohnzimmer, gearbeitet im Foyer, gekocht aus dem gemeinsamen Kühlschrank. Grundstücke in Palo Alto sind so teuer, dass Käufer den Altbau oft abreißen lassen, um ihr Traumhaus zu bauen. Die Baukosten fallen beim Kaufpreis kaum ins Gewicht. So war es auch hier. Herausgekommen sind ein paar gewöhnungsbedürftige Besonderheiten: ein kitschiger Brunnen im Lichtschacht, eine Felsengrotte als Badezimmer im Souterrain und computergesteuerte Duschen ohne Wasserhähne. Wir richten das Haus komplett mit Ikea ein. Gleich am Ortseingang betreiben die Schweden ein großes Möbelhaus. Vom Firmen-Domizil sind es nur fünf Minuten mit dem Fahrrad zur Lincoln Avenue. Das Familienhaus, ganz aus Holz gebaut, stammt von 1892. Universitäts-Gründer Leland Stanford hat es noch persönlich für seine Professoren anlegen lassen. Ganze Straßenzüge sind damals mit Häusern für die akademische Belegschaft entstanden. Professorville heißt der Stadtteil noch heute.

Unser Garten in der Washington Avenue grenzt rückwärtig beinahe an den Garten von Steve Jobs. Dazwischen liegt nur noch eine andere Parzelle. Dort, an der Ecke von Waverley Street und Santa Rita Avenue, steht das Ziegelhaus mit Reetdach, in dem Jobs lebte und starb. Auf einer wild wachsenden Wiese davor blühen sieben Apfelbäume. Es ist die einzige wilde Wiese in der Gegend, niemand anders gönnt sich diesen Ausbruch aus dem ungeschriebenen Vorgarten-Kodex, der akkurat geschnittenes Gras vorsieht. Doch dem Local Hero verzieh man diese Unbotmäßigkeit. Und es sind die einzigen Apfelbäume weit und breit – Apple. Jobs Witwe Laurene Powell lebt noch immer hier. Es ist ein bescheidenes Haus verglichen mit dem Reichtum seines Besitzers. Hinter den kleinen Fenstern im Erdgeschoss liegt das Arbeitszimmer. Ich erkenne es von den Fotos in Walter Isaacsons Biografie. Es ist ein stiller, magischer Ort. Wer vorbeikommt, spricht leise. Auch ich unterhalte mich hier unwillkürlich gedämpft.

Das Haus verkörpert den Charakter dieser Stadt: Bescheidenheit, Offenheit, Unscheinbarkeit, Kreativität. Vier Branchen hat Jobs von diesem Wohnzimmer aus revolutioniert: Computer mit iMac und iPad, Musik mit iPod und iTunes, Film mit Pixar und Kommunikation mit iPhone und dem AppStore. Verblüffend, wie winzig die Brandherde solcher Revolutionen sein können. Was hatte ich erwartet? Eine Villa im antiken Stil wie Hearst Castle, das größenwahnsinnige Schloss des Verlegers William Randolph Hearst in San Simeon weiter südlich an der kalifornischen Küste? Oder einen Glaspalast im Stil der Apple Stores? Beides würde nicht zu Palo Alto passen. Und nicht zu Steve Jobs, der den größten Teil seines Lebens hier verbracht hat. Kreativität braucht nicht viel Platz. Ein Esszimmertisch. Ein kleines Büro. Drei, vier Leute, die sich zusammen etwas ausdenken. Ein Zettel für Notizen.

Innovation entsteht durch den freien, ungehemmten Austausch von Menschen auf kleinstem Raum. Alle Firmen, die ich besuche, legen Wert auf Dichte. Physische Nähe, glauben sie, ist so wichtig wie die Abwesenheit allzu strenger Regeln. Räumliche Distanz behindert Kreativität, ebenso wie steifer gesellschaftlicher Umgang oder soziale Konvention. Vorschriften töten Ideen. Menschen werden kreativ, wenn sie beruflich so arbeiten dürfen, wie sie privat leben: eng verwoben, in freundschaftlichem Abstand, im ständigen Dialog, im freien Spiel der Ideen, ohne Angst vor Bestrafung durch eine höhere Instanz.

Beim Joggen fällt mir auf: Nirgendwo gibt es Gardinen. Offenheit ist Programm. Davon zeugen die niedrigen Zäune und Hecken ebenso wie der Dialog in den Cafés, die kurzen Distanzen, die kollektive Missachtung von Mustern und Denkverboten, die Akzeptanz alles Fremden und Ausländischen, der bunte Mix von Nationen, die Neugier, die Begeisterung für bleibende Werte, der Wunsch, dem Establishment eins auszuwischen.

Wie schaffen diese Leute es, Welterfolge zu produzieren? Davon handelt das nächste Kapitel von der Arbeitskultur.

Leseprobe 1: Das Inhaltsverzeichnis meines Buchs über das Silicon Valley
Leseprobe 3: Analoge Arbeitskultur – Wer nicht am Ort ist, spielt keine Rolle

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4 Kommentare

 
  1. (Pingback)

    [...] aus dem mächtigsten Tal auf uns zukommt” von Christoph Keese (Twitteraccount). Eine kleine Leseprobe stellt Keese auf seiner Website zur Verfügung. Der Journalist und Wirtschaftswissenschaftler [...]

    Das Startup Adventure Silicon Valley beginnt!

    5. April 2015

     
  2. (Pingback)

    [...] Es entstand das, was der ehemalige US-Austauschschüler Christoph Keese in seinem Buch ein “explosives Gemisch aus Geist und Geld” nennt. Es wird einerseits gespeist durch einen ausgeprägten Technik-Kult, durch ein Denken [...]

    Aus dem Silicon Valley kommt nichts GutesDigital Forum

    27. November 2014