Vergebung, die ewige Ungewissheit. Zum Finale von Breaking Bad



Für Freunde von Shakespeare und Dante war „Breaking Bad“ eine Wonne. Vince Gilligan, der Autor, schuf einen modernen Fünfakter, der klassische Dramenstoffe in die Gegenwart übertrug. Er ist dafür von namhaften Medien in eine Reihe mit Shakespeare und Miller gestellt worden. Nun ist das Finale im Fernsehen gelaufen. Faszinierend, dass es Gilligan dabei gelang, alle Konflikte zu beenden und alle Fragen zu beantworten – bis auf eine einzige: die Frage nach der Vergebung, ewiger Cliffhanger der Menschheit. Gilligan stellte seine Größe unter Beweis, indem genau diese Ungewissheit bestehen ließ. Wie im echten Leben.

(Zu diesem Beitrag gibt es seit dem 10. November eine Fortsetzung: Fegefeuer, Purgatorium und Läuterungsberg – was ist eigentlich der Unterschied?)

Die Entstehungsgeschichte der letzten Staffel von Breaking Bad ist umfassend dokumentiert worden. Bekannt ist, wie lange Gilligan und sein Team mit dem Stoff gerungen haben. Dass sie über Tage und Wochen nicht in der Lage waren, eine einzige Zeile zu schreiben. Sie rangen mit den großen Fragen der Menschheits- und Moralgeschichte: Schuld, Sünde, Reue, Buße, Sühne, Vergebung. Wenn ein derartig intelligenter Autor wie Gilligan sich mit solchen Fragen beschäftigt, lohnt ein genauer Blick darauf, zu welcher Lösung er gekommen ist. Das Ende, das er schließlich gefunden hat, hebt seine Leistungen noch weiter heraus. Es ergibt sich dermaßen logisch aus der inneren Mechanik der Charaktere, dass es gar kein anderes Ende hätte geben dürfen.

Von innen heraus gezwungen zu einer tragischen Handlung

Schließlich ist es dies, was Tragödien ausmacht: Dass die Protagonisten aus ihrer inneren Logik nicht anders handeln können als sie es tun, und deswegen unweigerlich in ihr Unglück laufen, obwohl sie versuchen, diesem zu entkommen.

Ob eine Tragödie künstlerisch gelungen ist, entscheidet sich vor allem daran, ob die Protagonisten aus Sicht des Zuschauers wirklich von innen heraus zu einer Handlung gezwungen werden. Zu nahe liegt die Versuchung des Autoren, dramaturgische Tricks anzuwenden, um die Helden in den Tod zu treiben. Zuschauer besitzen ein untrügliches Gespür für den feinen Unterschied zwischen echter Motivation und unbegründeten Taten, die allein dazu dienen, eine Handlung ihrem Klimax zuzutreiben.

Wie echt sind also die Motive der Protagonisten im Finale von Breaking Bad?

Walter White, der Drogenbaron, erlebt im eiskalten Exil an der Ostküste sein Purgatorium. Das Fegefeuer ist jener Ort, wo der Prozess der Läuterung einsetzt. Geläutert werden kann Walter, seitdem er einen kathartischen Moment der tiefen Reue durchlitten hat. Das war, als die Nazis, seine von ihm selbst angeheuerten Auftragskiller, seinen Schwager Hank gegen Walters bittendes Flehen erschossen haben. In diesem Moment schaut Walter erstmals tief in seine Seele. Er erkennt, dass die Überzeugung, Herr des Verfahrens und Herrscher des Kartells zu sein, ein Trugbild war. Hochmut. Superbia. Eine der sieben Todsünden. Walter fällt in diesem Moment ins Nichts. Von der Kamera in tonloser Zeitlupe aufgenommen, bricht er in sich und alles in ihm zusammen. Tiefe Reue – in der Bibel, bei Dante, bei Shakespeare die Voraussetzung für Umkehr und Vergebung.

Purgatorium in der eisigen Hölle

Von diesem Moment an geht es für Walter nur dem Scheine nach bergab. In Wahrheit geht es bergauf, denn endlich stellt er sich seinen Lebenslügen. Dies geschieht nicht plötzlich und nicht von allein. Es bedarf des Purgatoriums. Gilligan, ein Meister der Ironie, verlegt das Fegefeuer geschickt aus der Hitze New Mexicos in das absolute Gegenteil: in die Eiswüste von New Hampshire. Wie immer bei Gilligan – man muss das genial nennen -, ist diese Ortswahl nicht nur eine ironische Geste zur Vermeidung von Klischees, sondern zugleich der Ausdruck einer inneren Wahrheit des Protagonisten, nämlich Walters erstarrter, erkalteter Gefühlswelt, die er halb sich selbst zuzuschreiben hat, und halb seiner Familie, die ihn, das gefährliche Monster, seit Hanks Tod auf Abstand hält.

Das Purgatorium endet durch ein TV-Interview seiner alten Freunde, die ihn in aller Öffentlichkeit verdammen. Öffentliche Verdammnis ist nur die äußere Bestätigung der inneren Verdammnis, zu der Walter im Geheimen längst gelangt ist. Diese Bestätigung seines Selbsturteils löst in Walter den Impuls zum Schließen der eigenen Bilanz aus. Er sucht die Schlussabrechnung als den letzten ihm verbleibenden Weg zum Seelenfrieden, verbunden mit der Sehnsucht nach Buße, Sühne, Strafe und Tod, was angesichts der Monstrosität seiner Schuld gar nicht anders geht. Das Finale beginnt.

Walter vollbringt drei Taten der Buße

Auf Reue und Purgatorium folgt die Buße. Buße ist der Versuch, das Unrecht, das man getan hat und zu dem man sich nun bekennt, durch eigene Taten aufzuwiegen und es auf diese Weise – so gut es eben geht – zu löschen. Ob es gelöscht werden kann, entscheidet aber nicht der Bußfertige, sondern das Opfer. Somit lebt der Büßende bis zur Vergebung durch das Opfer in der Ungewissheit, ob das Löschen seiner Schuld möglich ist. Das ist die existenzielle Last, die jeder Büßer zu tragen hat. In einer Welt ohne Gott, in der Walter als Atheist lebt, wiegt diese Last doppelt schwer, weil Vergebung durch eine höhere Instanz unmöglich ist. Es kommt nun allein auf die Menschen an.

Die tristesten, dunkelsten Tragödien sind jene, in denen die Vergebung verweigert wird. Besonders aussichtslos wird die Lage, wenn offen bleibt, ob es Vergebung gibt – weder Ja noch Nein.

Die drei Bußetaten

Erstens findet er einen Weg, seinem Sohn die Drogenmillionen doch noch zukommen zu lassen, die dieser verschmäht. Damit schließt Walter mit der Lebenslüge ab, alles nur für seine Familie getan zu haben. Er kann nun bekennen, für sich selbst zum Drogenbaron und Mörder geworden zu sein, weil er sich dadurch lebendig gefühlt habe.

Zweitens bietet er seiner Frau Skyler die Chance, ihren Hals aus der Schlinge der Justiz zu ziehen, indem er ihr ein zentrales Beweisstück übergibt. Beim Abschied gesteht er ihr sein egoistisches Motiv. Buße ist damit auch ihr gegenüber getan, deren Leben er ruiniert hat.

Drittens rettet er seinen ehemaligen Partner Jesse aus der Sklaverei der Drogennazis. Jesse, der seinerseits nach Walters Leben trachtet, erfährt durch Walters Hand einen Akt der Gnade. Auch Jesses Leben hatte Walter ruiniert, auch hier tut er ein Werk der Buße.

Das vertrackte Problem der Sühne

Was nach der Buße nun noch fehlt, ist Sühne. Hier stand Gilligan vor einem vertrackten Problem. Einerseits muss an Walter gesühnt werden, weil er furchtbare Schuld auf sich geladen hat. Seine Verbrechen dürfen nicht ungesühnt bleiben. Andererseits steht die Sympathie der Zuschauer bis zum letzten Moment auf Walters Seite. Er hat uns tief in seine Schuld mit hineingezogen, weil wir gelernt haben, ihn zu verstehen und damit zu seinen Komplizen geworden sind.

Strafen und bestraft werden – beides muss jetzt zusammen geschehen.

Folgerichtig ermordet Walter die Nazis. Sie haben es verdient. Ihre Verbrechen werden gesühnt, und Walter ist der Richter, der Sühneengel für Hanks Hinrichtung. Dies ist der einfache Teil der dramaturgischen Lösung.

Wer aber richtet über Walter? Wer vollstreckt die Strafe gegen ihn?

Gilligan muss sich gemartert haben, bis er auf die richtige Antwort kam. Jesse kann nicht der Richter sein. Dann würde er selbst zum Täter werden (Selbstjustiz statt Richterjustiz!) und könnte nicht als der moralisch und physisch einzig Überlebende aus der Tragödie hervorgehen. Eine moralische Tragödie kann nicht enden in der völligen Vernichtung aller Schuldigen. Einer von ihnen muss der Weg vorgehen, den die Moral zeichnet: die Erlösung durch Gnade und Umkehr.

Walter darf sich auch nicht selbst richten. Sühne verlangt einen Richter. Auch hier leuchtet Gilligans tief moralischer Ansatz durch. Es bedarf einer Instanz, die bestraft, sagt er. Wir selbst sind diese Instanz in eigener Sache nie.

Niemand erbarmt sich, Walter White zu richten

Sein Dilemma illustriert Gilligan mit einer Szene, die Filmgeschichte schreiben dürfte: Walter und Jesse schieben sich den Revolver hin und her. Keiner von beiden will es sein, der Walter richtet. Das heißt symbolisch auch: Es ist noch unentschieden, ob Walter überhaupt gerichtet werden sollte. Wir als Zuschauer schwanken in diesem Moment hin und her, ob wir Walters Tod – gleich durch welche Hand – jetzt wünschen oder nicht. Unsere Verurteilung seiner Taten ringt mit unserer Sympathie für seinen Charakter.

Wer aber ist dann der Richter? Gott muss es sein. Und weil Gott in der modernen Welt unsichtbar ist oder geglaubt wird, muss es jenes einzige Moment sein, dem der moderne Mensch noch die Macht der höheren Gewalt zutraut: der Zufall.

Walter wird gerichtet vom Zufall. Von einem Querschläger aus seiner eigenen Höllenmaschine, der ihn in den Leib trifft. Man darf getrost annehmen, dass Gilligan in diesem Zufall Gott versteckt hat. Besonders in der finalen Staffel ist kein einziges Pixel auf dem Bildschirm Zufall und kein Geräusch auf der Tonspur, erst recht nicht in dieser letzten Folge, bei der Gilligan selbst Regie geführt hat.

Wo wird Walter durch den Querschläger getroffen? Dort, wo fast alle religiösen Gemälde die Wunde am Leibe Christi zeigen, zugefügt durch die Lanze des römischen Legionärs: rechts unter den Rippen.

Damit ist die Symbolik unfehlbar gesetzt. Walter stirbt nicht einfach nur an einer gerechten, göttlichen Strafe, er nimmt auch noch die Schuld anderer auf sich und stirbt einen Erlösertod. Die Sühne ist getan. Wen erlöst er? Uns, die Zuschauer, die verbotenerweise so lange und über so viele Verbrechen hinaus mit Walter gebebt und gezittert haben. Nun ist auch uns vergeben. Dass der Zufall Walter gerichtet hat, damit können wir leben.

Glück und Unglück, Verderben und Erlösung

Doch dies ist nicht das letzte Bild der Serie. Angeschossen und in innerem Frieden, ein Lächeln auf den Lippen, inspiziert Walter noch einmal die Maschinerie des Drogenlabors. Seine Hand streichelt einen Edelstahltank, als er tot zusammensinkt.

Diese Maschinen waren sein Glück, weil sie ihm halfen, zu sich selbst zu finden. Seiner Bestimmung nachzukommen. Sein Talent zu leben. Seine Stärke zu beweisen. Sie waren sein Glück, aber auch sein Unglück, sein Verderben, aber auch seine Erlösung.

Alle Fragen sind beantwortet. Walter konnte bereuen. Er konnte büßen und sühnen und um Vergebung bitten.

Doch wird ihm vergeben werden? Wir wissen es nicht. Werden Jesse, Skyler, Marie, seine Tochter und sein Sohn – werden sie ihm jemals vergeben können? Kein Hinweis darauf im Finale.

Auf diese Frage – nur auf diese – gibt es keine Antwort. Wie im echten Leben. Gilligan entlässt uns aus seinem Epos mit einer überwältigenden Botschaft gerade dadurch, dass er nichts sagt. Das ist nichts anderes als überragende dramaturgische Kunst. Die Botschaft lautet: Niemand nimmt uns die existenzielle Last, ewig um Vergebung bangen zu müssen.

Breaking Bad ist der beste Film, der je im Fernsehen gelaufen ist. Und eine der besten Tragödien, die je geschrieben wurden.

Fotos: AMC



 

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