Die Dummen, die Faulen, die Netten und die ganz normalen Menschen



Harald Staun hat sich auf der Medienseite der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ mit den jüngsten Quartalszahlen der New York Times vom 21. Juli 2011 auseinander gesetzt. Er hält die Zahlen für „ganz erstaunlich“. Überschrift und Vorspann lauten:

Die Dummen, die Faulen und die Netten: Die „New York Times“ hat endlich einen Weg gefunden. wie man im Internet Geld verdient: Mit treuen Lesern

Im Text heißt es dann über die Paywall, die Mitte März in Kanada und zu Beginn des zweiten Quartals weltweit eingeführt worden war:

Geradezu dilettantisch wirkte dabei, dass die neue Wand so einfach zu überwinden ist wie ein Gartenzaun – auch ohne zu bezahlen: Wer ein wenig an der Adresszeile herumfummelt, wird genauso zu den geschützten Texten vorgelassen wie all jene, die direkt von Facebook oder Twitter auf die Seiten geschickt werden. Bezahlen muss nur, wer dazu zu faul, zu dumm oder zu nett ist. Und alle, die die Zeitung auf einem iDings lesen wollen. (…) Es reicht, das scheint das laxe Mäuerchen der New York Times zu zeigen, das Geld von jenen zu nehmen, die ohne aufwendig produzierten Journalismus nicht leben wollen, und zwar ohne die zu vertreiben, die diese Abhängigkeit erst noch entwickeln müssen. Das klingt ein wenig nach dem Geschäftsmodell eines Drogendealers.

In der Tat ist es sehr einfach, die New York Times-Paywall zu umgehen. Und doch stimmt Harald Stauns These nicht. Weder ging die New York Times dilettantisch zu Werke, noch kaufen nur die Faulen, Dummen, Netten und Süchtigen ein Abonnement. Hinter dem Erfolg der New York Times steckt ein anderer Effekt, der den genaueren Blick lohnt.

Bereits wenige Tage nach dem Start wimmelte es im Netz von Tipps zum kostenlosen Einstieg. Zum Beispiel verriet Lauren Indvik am 28. März bei Mashable („How to hack the New York Times paywall with your delete key“) den Trick, dass es völlig ausreicht, den Code „?gwh=numbers“ aus der aufgerufenen URL zu löschen. Es geht sogar noch einfacher. Man kopiert die Überschrift eines Textes, den man lesen möchte, in die Google-Suchbox und klickt auf das Suchergebnis bei Google News. Oder man kommt über Twitter, Facebook oder ein anderes soziales Netzwerk. Traffic von wichtigen Referrern wird auf die Seite gelassen, ohne bei der 20-Artikel-pro-Kalendermonat-Grenze mitzuzählen. Die New York Times wirbt nicht damit, toleriert kostenlosen Referrer-Traffic jedoch stillschwiegend. In der offiziellen Frage-und-Antwort-Liste zur Paywall heißt es nur:

Visitors get 20 free articles (including blog posts, slide shows, video and other multimedia features) each calendar month on NYTimes.com, as well as access to browse the home page, section fronts, blog fronts and classifieds. Subscribers enjoy unrestricted access to all of the content on NYTimes.com, and 100 Archive articles every four weeks.

Dabei wird „Visitor“ nicht genauer definiert. Auf welchem Weg der Besucher auf die Seite kommen muss, um gezählt oder nicht gezählt zu werden, steht nicht im Fragenkatalog. Unterdessen tauschen sich die Leser leidenschaftlich im Netz darüber aus. Beispielsweise schreibt User RFK am 22. Juli bei OwnLocal.com:

If you don’t want to clear your cookies, just Google the article’s title, and click on the Google News link (not the Google Web link) for the article.The Google News referrer-URL will bypass the paywall.

Außerdem hat sich die 20er-Grenze offenbar tief bei den Lesern eingeprägt. Viele überlegen genau, ob ein Artikel auf der frei zugänglichen Homepage nach Überschrift und Vorspann interessant genug klingt, um einen von 20 Klicks dafür auszugeben, oder ob sie nicht lieber gleich auf eine andere Seite ausweichen. Typisch ist der Eintrag von Douglas Burke bei OwnLocal:

I love the Times but don’t want to use up my limit too soon. As a result I just don’t visit like I used to.

David T. Macknet ergänzt:

I simply hit the pay-wall and say, „nah, I wasn’t that interested in reading the story, and it’ll come again via some other agency anyway.” NYT just isn’t that special, and doesn’t provide anything worth going through all of the trouble of logging in to read it.

Reaktionen wie diese haben der New York Times Traffic-Einbußen gebracht. Quantcast schätzt den Besucherverlust auf etwa 25 Prozent:

Das sind zwar nur sehr grobe Schätzungen ohne zugrunde liegende Messdaten, dennoch erwarteten viele Beobachter wenig Gutes von den Quartals- und Halbjahreszahlen. Um so größer die Überraschung, als CEO Janet L. Robinson 224.000 bezahlte Online-Abos per 30. Juni ankündigen konnte. Hinzu kommen 100.000 von Ford gesponserte Kunden-Abos, nicht zu vergessen die 756.000 Print-Kunden, die von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, die digitalen Ausgaben zum selben Preis mitzulesen – Bündelabos also. Zusammen sind das 1,08 Millionen Kunden, die auf die eine oder andere Weise, eigenständig oder durch Sponsoren für das Lesen der New York Times im Web und auf Apps bezahlen.

Die zweite wichtige Nachricht waren die Anzeigenumsätze im Digitalgeschäft. In der News Media Group (zu der die New York Times auch, aber nicht allein gehört) stiegen die Digital-Werbeumsätze im ersten Halbjahr 2011 um 15,2 Prozent auf 112,1 Millionen Dollar an (Vorjahreszeitraum: 97,3 Millionen). Der Digitalanteil am Gesamtumsatz liegt bei 28 Prozent (Vorjahr 25,9 Prozent). Die Zahlen für das zweite Quartal: plus 15,5 Prozent auf 58,2 Millionen Dollar.

Angesichts dieser Zahlen wird nun deutlich, dass die New York Times keineswegs dilettantisch, sondern sehr überlegt vorgegangen ist. Sie hatte bei ihrem bedeutsamen Versuch, Vertriebsumsätze zu erschließen, zugleich große Werbeumsätze zu verteidigen. Es war klar, dass jede Form von Paywall – und sei sie noch so löchrig – Traffic-Einbrüche auslösen würde, die ihrerseits dem Anzeigengeschäft schaden würden. Also galt es, die Paywall so zu gestalten, dass möglichst viel Anzeigenumsatz erhalten bleibt und gleichzeitig möglichst viele Abonnenten gewonnen werden. Anders ausgedrückt ging es darum, Werbeumsatz nur dann abzuschneiden, wenn man mindestens soviel Vertriebserlöse hereinholen konnte. Eine komplizierte Kalibrierungs-Aufgabe, die man nur durch genaue Analysen lösen kann.

Offenbar hat die Times vorher sehr gründlich untersucht, welcher Typ von Leser sich wie verhält und welche Art von Paywall sein Verhalten auf welche Weise verändert. Leserreaktionen, wie sie oben zitiert wurden und wie Harald Staun sie in seinem Beitrag verarbeitet hat, haben die Times offenbar größtenteils nicht kalt erwischt, sondern waren antizipiert, quantifiziert und einkalkuliert worden. Nicht alle Leser verhalten sich gleich. Die Kunst besteht darin, die unterschiedlichen Reaktionsmuster vorher zu erkennen und abzuschätzen. Mit ihrer Paywall hat die New York Times sich gut auf diese Verhaltensmuster eingestellt. Anders ist nicht zu erklären, warum 224.000 Menschen ein Abonnement abschließen und gleichzeitig der Anzeigenumsatz trotz offenbar sinkenden Traffics steigt. Dafür kann es nur eine Erklärung geben: Der verlorene Traffic war für das Anzeigengeschäft qualitativ nicht maßgeblich; der wertvolle Traffic wurde behalten. (Vorausgesetzt, dass der digitale Anzeigenumsatz der New York Times wirklich gestiegen ist. Der Halbjahresbericht der New York Times Company weist nur die News Media Group in der Summe aus. Es ist jedoch plausibel, dass auch NYT.com zu dem dort gezeigten Wachstum beigetragen hat.)

Woran besteht also der Kniff der NYT-Paywall? Dass sie ausgewählten Referrer-Traffic durchlässt und ihn mit Anzeigen in Geld verwandelt, dass sie gleichzeitig aber die treue Stammleserschaft (die selten oder nie über Google News kommt) milde zum Bezahlen einlädt. Milde, indem sie die Pay-Grenze vergleichsweise liberal auf 20 setzt und dem treuen Fan damit immerhin die Möglichkeit lässt, einen Artikel pro Werktag auf Kosten des Hauses zu lesen. Man fühlt sich als Fan freundlich für seine Treue belohnt und nimmt der geliebten Times die Paywall weniger übel.

Keineswegs also ist hier eine tumbe Truppe von Dilettanten in die Falle gelaufen, wie Harald Staun mutmaßt. Keineswegs tummeln sich in der Schatzkammer der Times Räuber, die durch Löcher schlüpfen, von denen die steinzeitlichen Print-Leute gar nichts ahnen. Vielmehr hat die New York Times sauber organisiert, dass ein steter Strom von neugierigen Fremden an der Attraktion vorbei geführt wird, das Programm zu schätzen lernt und immer tiefer in den Kreis der Kunden und Stammkunden hineingezogen wird.

Und so sind es eben nicht nur die Dummen, die Faulen, die Netten und die Süchtigen, die der New York Times auf den Leim gehen. Es sind die normalen Menschen, und die gehen ihr auch nicht auf den Leim, sondern machen ein Geschäft. Sie zahlen für die Eintrittskarte, weil es ihnen zu dumm und zu lästig ist, sich den Eintritt zu erschleichen. Von diesen Menschen gibt es im Netz Millionen. Jeder, der mit Paid Content experimentiert, lernt sie kennen. Es sind Leute, die gute Leistung bezahlen möchten, weil es ihnen wichtig ist und weil sie sich gut dabei fühlen. Wer diese Zielgruppe unterschätzt, lässt Geld auf der Straße liegen.

 



 

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