Der Unterhaltungsdampfer ARD



(Dieser Artikel bezieht sich nicht auf meinen Dialog mit Daniel Schultz. Wer diesen sucht, bitte weiter nach unten rollen.)

Wofür geben ARD und ZDF ihr Geld aus? Deutschland hat das opulenteste öffentlich-rechtliche Fernsehen der Welt, und die preußischste Behörde, die darüber wacht. Dies ist die „Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten“, kurz KEF genannt. Das Verfahren, mit dem ARD und ZDF an ihr Geld kommen, gleicht dem eines Militärbeschaffungsamtes. Zuerst verkündet die Politik per Rundfunkstaatsvertrag, welche Aufgaben die Öffentlich-Rechtlichen erledigen sollen, dann melden die Anstalten ihren „Bedarf“ bei der KEF an. Diese prüft, streicht ein wenig, gibt den Bedarf frei, teilt die Summe durch die Zahl der Gebührenzahler und errechnet daraus die Rundfunk- und Fernsehgebühren, die jedermann zu zahlen hat.

Ob ein Auftrag – also zum Beispiel ein neuer Sender oder das Wegschnappen der Champions-League-Rechte von den Privaten – sinnvoll ist, prüft die KEF nicht. Sie darf es nicht prüfen. Über Sinn und Unsinn von Aufträgen entscheidet allein die Politik. Für die KEF geht es nur darum, das manchmal Sinnvolle und oft genug Sinnlose korrekt nachzurechnen und dann abzustempeln.

Alle paar Jahre gibt die KEF einen Bericht heraus. Der jüngste Band heißt schlicht „17. KEF-Bericht“, ist 329 Seiten dick und stammt aus dem Dezember 2009. Er ist eine faszinierende Lektüre. Ein Ausflug ins Reich des leichten Geldes und der geschickten Statistikverschönerung. Geld bekommt, wer gut Anträge schreiben kann. Und am meisten Geld bekommt, wer seinen Rechenschaftsbericht so abzufassen versteht, dass die Politik auf den ersten Blick die Schmankerl findet, die sie mag.

Schauen wir uns das an einem Beispiel an. Es illustriert, wie geschickt sich die ARD – in Wahrheit ein riesiger Unterhaltungsdampfer – als Volkshochschule und politische Bildungsanstalt präsentiert, um an mehr Geld zu kommen.

Auf Seite 39 des KEF-Berichts steht folgende Grafik:

Diese Grafik zeigt auf der vertikalen Achse die Anzahl der Erstsendeminuten der einzelnen ARD-Programmsparten im Jahr 2008, auf der horizontalen Achse die Selbstkosten des Ressorts in Millionen Euro. Die Größe der Kreise steht für die Kosten pro Sendeminute.

Auf den ersten Blick löst diese Grafik Wohlwollen aus: „Aha“, ist man geneigt zu denken, „die ARD steckt den größten Teil ihres Geldes in Sendungen zu Politik und Gesellschaft.“ So gehört es sich für einen öffentlichen Sender.

Doch schauen wir genauer hin.

Lesen wir dafür zunächst die Minutenzahl in der Mitte der Kreise ab und setzen sie dann für jede Sparte ins Verhältnis zur Summe. Dabei kommt heraus:

Politik und Gesellschaft 34,98%
Unterhaltung 12,72%
Sport 13,35%
Spielfilm 10,49%
Fernsehspiel 3,34%
Familie 15,26%
Kultur und Wissenschaft 7,63%
Religion 1,27%
Musik 0,95%

(Spots und Überleitungen sparen wir uns; sie fallen nicht ins Gewicht).

Vergleichen wir nun diese Liste mit einem konkreten Programmtag der ARD: Montag, 30. Mai 2011. An diesem Tag inklusive der Nacht laufen:

05:30 Morgenmagazin
09:00 Heute
09:05 Rote Rosen
09:55 ARD Wetterschau
10:00 Heute
10:03 Brisant
10:30 Meine Heimat Afrika
12:00 Heute
12:15 ARD Buffet
13:00 ZDF Mittagsmagazin
14:00 Tagesschau
14:10 Rote Rosen
15:00 Tagesschau
15:10 Sturm der Liebe
16:00 Tagesschau
16:10 Nashorn, Zebra & Co.
17:00 Tagesschau
17:15 Brisant
18:00 Verbotene Liebe
18:25 Marienhof
18:50 Großstadtrevier
19:50 Das Wetter im Ersten
19:55 Börse im Ersten
20:00 Tagesschau
20:15 Erlebnis Erde: Mythos Amazonas
21:00 Kleider machen Deutsche
21:45 Fakt
22:15 Tagesthemen
22:43 Das Wetter im Ersten
22:45 Beckmann
00:00 Nachtmagazin
00:20 Studio Richling
00:50 Ein Goldfisch an der Leine
02:45 Tagesschau
02:50 Sturm der Liebe
03:40 Kleider machen Deutsche
04:25 ARD Ratgeber Reise
04:55 Tagesschau
05:00 Fakt

 

Dies ist zwar nur ein einzelner Tag, aber man kann diesen Test mit allen beliebigen Tagen anstellen. Es kommt ziemlich das Gleiche heraus. Wir können diesen Tag also guten Gewissens als halbwegs repräsentativ ansehen.

Ordnen wir die einzelnen Sendungen nun den Sparten zu, von denen die KEF in ihrer Grafik spricht – und anhand derer die ARD der KEF ihre Programmstatistiken liefert. Die KEF gibt nicht an, welche Sendung sie welcher Sparte zuordnet. Wir müssen also raten. Das kann aber nicht so schwer sein:

Morgenmagazin:
Das lassen wir großzügig als Politik und Gesellschaft gelten, obwohl tausend andere Dinge darin vorkommen und der Unterhaltungsanteil beträchtlich ist

Heute:
Ganz klar Politik und Gesellschaft

Rote Rosen:
Ein Schmachtfetzen. Kategorie Fernsehspiel

ARD Wetterschau:
Lassen wir gelten als Politik und Gesellschaft

Heute:
Politik und Gesellschaft

Brisant:
Klarer Fall von Unterhaltung

Meine Heimat Afrika:
Fernsehspiel. Die SZ schrieb: „Verstörend niveaulos“

Heute:
Politik und Gesellschaft

ARD Buffet:
Das müssen wir als Unterhaltung werten. Die Themen sind laut Webseite des betreuenden SWR: „Bunte Vielfalt aus der Küche“, „Jeden Tag eine andere kreative Idee“ und „Richtig Vererben“. Das geht beim besten Willen nicht als Politik und Gesellschaft durch.

ZDF Mittagsmagazin:
Mit einigem guten Willen Politik und Gesellschaft

Tagesschau:
Politik und Gesellschaft

Rote Rosen:
Viele Blumen an diesem Tag. Nochmal Fernsehspiel

Tagesschau:
Politik und Gesellschaft

Sturm der Liebe:
Eine Soap, doch die gibt es als Sparte nicht. Also muss es ein Fernsehspiel sein. Man mag gar nicht daran denken, was Fernsehspiele in der ARD früher einmal waren und heute manchmal noch sind. Dieses Format enthält Spielhandlung und Schauspieler, es ist keine Show – in den KEF-Kategorien muss der Sturm der Liebe ein Fernsehspiel sein

Tagesschau:
Politik und Gesellschaft

Nashorn, Zebra & Co.:
Endlich! Kultur und Wissenschaft!

Tagesschau:
Politik und Gesellschaft

Brisant:
Unterhaltung

Verbotene Liebe:
Fernsehspiel

Marienhof:
Nochmal Fernsehspiel

Großstadtrevier:
Und wieder ein Fernsehspiel

Das Wetter im Ersten, Börse im Ersten, Tagesschau:
Politik und Gesellschaft

Erlebnis Erde: Mythos Amazonas:
Kultur und Wissenschaft

Kleider machen Deutsche:
Und noch ein Fernsehspiel

Fakt:
Politik und Gesellschaft

Tagesthemen, Das Wetter im Ersten:
Politik und Gesellschaft

Beckmann:
Politik und Gesellschaft

Nachtmagazin:
Politik und Gesellschaft

Studio Richling:
Unterhaltung

Ein Goldfisch an der Leine:
Der erste Spielfilm des Tages, nachts um zehn vor eins

Tagesschau:
Politik und Gesellschaft

Sturm der Liebe:
Fernsehspiel

Kleider machen Deutsche:
Fernsehspiel

ARD Ratgeber Reise:
Unterhaltung. Bei Politik und Gesellschaft waren wir ohnehin zu großzügig

Tagesschau:
Politik und Gesellschaft

Fakt:
Politik und Gesellschaft

Zählen wir nun die Sendeminuten der einzelnen Sparten zusammen und rechnen ihren Anteil an diesem Programmtag aus. Stellen wir außerdem dieselbe Rechnung für das Programm vom frühen Morgen bis Mitternacht an, denn nach 24 Uhr schaut kaum noch jemand Fernsehen und es laufen ohnehin vorwiegend Wiederholungen. Dann ergibt sich im Vergleich zu den KEF-Angaben folgende Darstellung:

KEF Real Real bis 24h
Politik und Gesellschaft 34,98% 38,47% 40,53%
Unterhaltung 12,72% 13,84% 12,38%
Sport 13,35% 0,00% 0,00%
Spielfilm 10,49% 8,99% 0,00%
Fernsehspiel 3,34% 31,27% 37,04%
Familie 15,26% 0,00% 0,00%
Kultur und Wissenschaft 7,63% 7,43% 10,05%
Religion 1,27% 0,00% 0,00%
Musik 0,95% 0,00% 0,00%

 

Dass Sport, Religion und Musik an diesem 30. Mai 2011 nicht vorkamen, übersehen wir geflissentlich. Über das Jahr wird das sicher ausgeglichen.

Ins Auge aber sticht der krasse Unterschied bei der Sparte Fernsehspiel. Laut KEF-Bericht sind es unter 4 Prozent, in der Wirklichkeit aber 31 Prozent und vor Mitternacht sogar 37 Prozent. Mehr als ein Drittel ihres gebührenfinanzierten Programms bestreitet die ARD mit Fernsehspielen des Typs Rote Rosen, Meine Heimat Afrika, Verbotene Liebe und Marienhof. In der Summe sind es an diesem Tag 6 Stunden und 40 Minuten Fernsehspiele, vor Mitternacht 5 Stunden und 50 Minuten. Wenn schon so viele Fernsehspiele, warum müssen es dann Soaps und Schmachtfetzen sein?

Dass Politik und Gesellschaft auf 38 Prozent Programmanteil kommen, liegt an diesem Tag zum Teil an der zweimal ausgestrahlten Dokumentation „Kleider machen Deutsche“, die eine Kulturgeschichte der Mode erzählt. Und daran, dass wir alle Magazin- und Talk-Formate wie Morgenmagazin, Mittagesmagazin und Beckmann bei Politik und Gesellschaft mitgezählt haben.

Wie hat die ARD der KEF nur eingeredet, dass Fernsehspiele gerade einmal 3,34 Prozent des Programms ausmachen? Wo sind Rote Rosen, Meine Heimat Afrika, Verbotene Liebe und Marienhof mitgezählt? Bei Unterhaltung können sie nicht sein – diese Sparte ist voll; sie liegt auf Höhe der KEF-Meldung. Bei Religion und Musik werden die Soaps nicht stecken. Bei der Familie vielleicht? Das würde erklären, warum ein normaler Programmtag wie der 30. Mai 2011 nach unserer Rechnung so gar nichts für Familien bot, obwohl laut KEF doch ein Siebtel des Programms aus dieser Sparte kommen soll.

Würde man nur Tagesschau, Tagesthemen und Fakt zu Politik und Gesellschaft zählen, käme diese Sparte bei der ARD gerade einmal auf 18 statt auf 38 Prozent. Das ist der wahre Anteile von Politik und Gesellschaft in der ARD: unter 20 Prozent und nur halb so groß wie das Fernsehspiel. Die Grafik im KEF-Bericht ist mithin grob irreführend. Ganz oben müsste dort das Fernsehspiel stehen.

Zählt man die leichten Zerstreuungskategorien Fernsehspiel, Unterhaltung und Musik zusammen, um sich der heiklen Unterscheidung zwischen Unterhaltung und Fernsehspiel zu entziehen und alles Unterhaltende in einer Kategorie zu erfassen, füllt die ARD ihr Programm vor Mitternacht damit zu 49,5 Prozent. Die Hälfte des Programms sind folglich Unterhaltung. Das also sind angeblich die „Inseln der Qualität“, von denen Kurt Beck einmal gesprochen hat.

Kurzum: Die ARD ist ein Unterhaltungsdampfer mit mäßigem Tiefgang, vielfach schiffbar auch in flachen Gewässern. Weil es dafür aber wohl keine 6,161 Milliarden Euro geben würde (Gesamterträge ARD Vorschau 2011 laut KEF-Bericht), lackiert sich der Dampfer gern zum Theaterschiff um und macht auf politisch-gesellschaftliche Relevanz. Und die KEF hindert ihn leider nicht daran.



 

58 Kommentare

 
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  54. Christoph Keese

    @ Andreas: Richtiger Hinweis. Danke. Alle Zahlen beziehen sich auf das Erste, mit Ausnahme der Gebühren für die ARD, in denen auch die Dritten Programm enthalten sind. Ich werde das im Text ändern.

    @ Bernd: Dialog mit Daniel Schultz steht ganz am Ende der Homepage, nicht am Ende des Artikels. Einfach auf der Hompage bleiben und bis nach ganz unten rollen.

     
     
  55.  
  56.  
  57. EJ

    Ihre “immanente” Interpretation, Herr Keese, mag zutreffend sein. Möglich, dass die ARD ein bisschen strunzt. Im Außenbezug sieht’s allerdings ein bisschen anders aus.

    Haben Sie Kinder? Wenn Sie Kinder haben und die nicht von jedem Fernseh-Konsum weghalten wollen, werden Sie die ARD genau als die „Inseln der Qualität“ zu schätzen wissen, als die Kurt Beck sie bezeichnet hat. (Ich persönlich bin sogar recht dankbar dafür, dass die ARD – und sei es, gegen ihre eigenen Vorgaben – einen relativ hohen Unterhaltungteil hat, weil er mir erlaubt hat, nur sehr selten auf die Privaten umschalten zu müssen. (Und inzwischen habe ich meine Kinder – auch weil sie ins Kino gehen – glücklich so weit, dass sie die “private” Dauerabfolge von Mist und Pinkelpause nicht mehr locken kann.))

    Mit dem Kinder-Beispiel dürfte (paradimatisch) etwas über die Qualität des ARD-Programm-Angebots gesagt sein, dass sich mit Ihrer “immanenten” Qualitätsberechnung eher nicht erfassen lässt. Oder?

     
     
  58. Andreas

    Der Ordnung halber müsstest Du statt ARD immer Das Erste sagen. Die Berechnungen der KEF vergleichst Du zwar richtig mit dem Ersten Fernsehprogramm. Wenn die ARD aber als ARD auf “politisch-gesellschaftliche Relevanz” macht, meint sie damit meistens das Gesamtpaket aus DasErste, den dritten Programmen, den Digital-Kanälen, arte und 3sat, eventuell noch ihre über 60 Hörfunkwellen. Das ist immer die Ausrede, weshalb im Hauptprogramm das Niveau purzelt. Beim ZDF ist das nicht anders.

     
     

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